Kroatien wurde zum Vorbild aller kleinen Fussballnationen, doch jetzt geht das Märchen zu Ende
Vor Beginn der Euro sprach Ivan Rakitic über die kroatische Nationalmannschaft. Ihre Erfolge einerseits, die Einwohnerzahl Kroatiens von nur vier Millionen Einwohnern andererseits – das widerspreche jeder Logik, so der im Aargau geborene Mittelfeldspieler. Und auch wenn man Auslandkroaten wie ihn zum demografischen Pool addieren darf, bleibt seine Schlussfolgerung valid: «Es scheint ein erfundenes Märchen.»
Mit dem WM-Finaleinzug 2018 und dem Halbfinal 2022 hat Kroatien alle kleinen Nationen inspiriert. Doch jetzt könnte das Märchen von dem wundersamen Land mit der langen Küste und den aussergewöhnlichen Fussballern vor dem Ende stehen. Nach einem 0:3 gegen Spanien und einem 2:2 gegen Albanien geht es am Montag im ersten grossen Showdown dieser EM gegen Italien um den Einzug ins Achtelfinale. Kroatien muss gewinnen, um auch im fünften Turnier nacheinander die Gruppenphase zu überstehen. Italien braucht seinerseits nur einen Punkt, um weiterzukommen.
Ständig geriet das Team in Grenzsituationen
Die Kroaten schon abzuschreiben, wäre allerdings töricht. Niemand flirtete im letzten Jahrzehnt so lustvoll mit Grenzsituationen wie die Elf von Trainer Zlatko Dalic. Oder welche Mannschaft kann schon zwei WM-Podiumsplätze in Serie vorweisen, ohne ein einziges Ausscheidungsspiel nach 90 Minuten gewonnen zu haben? Eine Verlängerung (2018 im Halbfinal gegen England) und vier Elfmeterschiessen (Dänemark und Russland 2018, Japan und Brasilien 2022) verschafften Kroatien die Ehre.
Gleichzeitig handelte es sich bei seinen Heldenepen keineswegs nur um Streiche des Fussballgotts. Denn es gab auch kaum Mannschaften, die so komplett alle Facetten des Spiels abbildeten wie die Kroaten. Mit ihrem Mittelfeld aus Luka Modric, Rakitic, Marcelo Brozovic oder Mateo Kovacic liessen sie gepflegt den Ball laufen. Gleichzeitig agierten sie nie überakademisch. Charakter und Kampfgeist gelten an der Adria schon wegen der noch jungen Kriegsvergangenheit als unabdingbar. Spieler wie der Verteidiger Dejan Lovren oder der Angreifer Mario Mandzukic verkörperten sie im Überfluss.
Doch erst Mandzukic, dann Rakitic und schliesslich Lovren traten aus der goldenen Generation ab, und die Darbietungen der Übriggebliebenen irritierten die Heimat dieser Tage stark. Trotz bedingungsloser Unterstützung Zehntausender Fans begann Kroatien stets pomadig und verteidigte ohne Struktur. Die fünf Gegentore bisher sind so viele wie in neun Gruppenspielen bei den vergangenen drei Turnieren zusammen. Dafür haben die vermeintlichen Fighter noch keine einzige gelbe Karte kassiert.
Luka Modric war Kroatiens Mozart, jetzt wirkt er rostig
Die Kritiken sind furios, so wie das eben ist, wenn man zu den Grossen zählt: Die Ansprüche steigen. Auch die Gegner behandeln die Kroaten längst wie einen Favoriten und verbarrikadieren sich entsprechend. «Wenn elf im Weg stehen, ist es schwer durchzukommen, solange man nicht Lionel Messi im Team hat», erklärte der Angreifer Andrej Kramaric nach dem Albanien-Spiel. Messi nicht, klar – aber Modric, den haben sie doch? Kroatiens Mozart, 2018 einer von nur zwei Gewinnern des Goldenen Balls der letzten 16 Jahre, die nicht Messi oder Cristiano Ronaldo hiessen.
In Modric, 38, spiegeln sich die Vorboten des Scherbengerichts, das die Kroaten bei einem Ausscheiden am Montag erwarten dürfte. Der Spielmacher wirkt rostig nach einer Saison als Ersatzmann bei Real Madrid. Gegen Spanien kam er überhaupt nicht in den Rhythmus, gegen Albanien erst spät, als ihm Dalic statt Brozovic den 21-jährigen Luka Sucic zur Seite stellte, um seine Dynamikdefizite zu kompensieren.
Modric dachte langsam, verlor Bälle, spielte Fehlpässe. Im kroatischen Fernsehen forderte der ehemalige Nationaltorwart Tomislav Ivkovic daraufhin recht unverblümt seine Degradierung. Modric sei ausser Form und spiele auf falscher Position. «Dalic denkt, er schuldet ihm etwas. Aber ein Trainer darf nie jemandem etwas schulden.»
Es ist ein klassischer Konflikt, wenn sich grosse Karrieren dem Ende zuneigen. Vergangenheit oder Zukunft, wann ist der Moment zum Stabwechsel? Das kleine Kroatien ist nicht Real Madrid, wo Modric-Nachfolger gekauft werden können. Auch nicht Italien, wo bei knapp 60 Millionen Einwohnern irgendwann schon wieder bessere Talente nachwachsen als jene, die am Donnerstag von Spanien vorgeführt wurden.
Kroatien produziert zwar weiter Ausnahmefussballer wie den Verteidiger Josko Gvardiol, 22, aber bis noch einmal so viele zusammenfallen wie in der Generation Modric, könnte es dauern. Da überlegt man es sich erst recht, sie zu verrenten – und auch die süssen Erinnerungen. «Solange ich lebe, werde ich ihnen dankbar sein», sagt Dalic über Modric, Brozovic, 31, oder den Flügelspieler Ivan Perisic, 35: «Sie spielen, weil sie es verdienen.»
Doch selbst die grössten Helden werden irgendwann müde, das gilt womöglich auch für den Trainer. Der tiefgläubige Dalic, der immer einen Rosenkranz in der Tasche trägt und seinen Spielern vor der Euro eine Papstaudienz verschaffte, übernahm vor der WM 2018 ein Team in Trümmern. Als «unglaublicher Crack» und «grossartiger Psychologe» (Rakitic) führte er es an die Spitze.
Manche fordern seine Degradierung: Der Superstar Luka Modric (Mitte). Carmen Jaspersen / Reuters
Mit seinem schwarzen Haar und seinem melancholischen Blick strahlte Dalic dabei immer eine gewisse Mystik aus. Angesichts der Kritiken mischt er nun auch Sarkasmus darunter. «Wenn wir verlieren, ist es meine Schuld», sagte er zuletzt. «Aber wenn wir Medaillen gewinnen, ist meine Rolle bedeutungslos, dann bin ich zufällig dabei. So läuft es in Kroatien.»
In Kroatien und nicht nur dort. Der Fussball vergisst schnell, und wenn ein Turnier-Aus droht, liegen die Nerven blank. Modric stapfte nach dem Albanien-Spiel wortlos davon, als ihm eine Frage auf Spanisch gestellt wurde – weil ihn zuvor schon die Frage eines anderen Spaniers genervt hatte. Es ging, natürlich, um das Altersthema. Gegen Italien wird es ultimativ verhandelt. Kroatien spielt um ein grosses Erbe.