In Frankreichs Norden hat die Linke ihre Stammwählerschaft verloren. Kann sie sie zurückgewinnen?
Präsident Macron will Dünkirchen zu altem Glanz ;verhelfen. Doch bei den Bewohnern kommen die Bemühungen nicht an. Cyril Marcilhacy ;/ Bloomberg / Getty
Für einen Junitag an der Nordküste Frankreichs ist es an diesem Dienstagnachmittag ungewöhnlich warm. Im Sitzungszimmer der kommunistischen Partei von Dünkirchen staut sich die Hitze. Damien Lacroix hat das Jackett ausgezogen und die Hemdsärmel hochgekrempelt, er spricht schnell und mit fester Stimme: «Wir kennen die Realitäten und die Wünsche der Menschen. Es gibt keine andere Option, als uns zu wählen.»
Lacroix kandidiert für das Linksbündnis, den Nouveau Front populaire, um einen Sitz im Parlament. Er und seine Mitstreiter, Vertreter der Grünen, der Sozialisten und der Kommunisten, haben die lokale Presse eingeladen, um ihr Programm für die Parlamentswahlen vorzustellen. «Die Auflösung des Parlaments durch den Präsidenten hat eine neue Welle der Hoffnung ausgelöst», sagt Lacroix. Die linken Parteien präsentierten ein «klares und ehrgeiziges Programm für das tägliche Leben der Bürger».
Ob die Bürger das auch so sehen? 38 Prozent der Wähler in Dünkirchen haben bei der Europawahl am 9. Juni für das rechtsnationale Rassemblement national gestimmt. Rechnet man die Stimmen für die linken Parteien, die sich für die Parlamentswahlen zum «Nouveau Front populaire» zusammengeschlossen haben, zusammen, kommen sie auf gut 27 Prozent.
Arbeiter wenden sich von der Linken ab
Schlüsselt man das Wahlverhalten der Franzosen bei der Europawahl nach Kaderstufen auf, ist der Anteil der RN-Wähler unter den Arbeitern mit 54 Prozent mit Abstand am höchsten. Die Industriestadt Dünkirchen kann als Symbol für das gelten, was vielerorts im Land passiert ist: Arbeiter, die von der Politik der Regierung enttäuscht sind, wenden sich von linken Vertretern ab.
In der Region Hauts-de-France, zu der Dünkirchen gehört, sind 18 Prozent der Arbeitsplätze im Industriesektor angesiedelt, fast doppelt so viele wie in ganz Frankreich. Nun, kurz vor den Parlamentswahlen, die Präsident Macron am 9. Juni überraschend ausgerufen hat, stellt sich die Frage besonders drängend, ob die Linke die Arbeiter zurückgewinnen kann.
«Vielleicht haben wir den Einfluss der Rechten in der Region unterschätzt», meint Philippe Verbeke. «Aber es ist nie zu spät, um die Leute umzustimmen.» Verbeke vertritt bei der CGT, einer der grössten Gewerkschaft des Landes, die Stahlindustrie in Dünkirchen. Dieser Tage hat er viel zu tun: Bis zur ersten Runde der Parlamentswahl am 30. Juni besucht er möglichst viele Betriebe in der Region, um mit den Mitarbeitern ins Gespräch zu kommen. «Ich versuche, ihnen zu zeigen, warum das RN nicht für ihre Interessen einsteht. Das ist eigentlich ganz einfach: Man sieht am Abstimmverhalten der Partei, dass sie nicht aufseiten der Arbeiter steht.»
Verbeke zählt auf: höherer Mindestlohn, Anpassung der Löhne an die Inflation, Wiedereinführung der Solidaritätssteuer auf Vermögen – alles Vorschläge, die für ihn im Interesse der Arbeiter sind und die das Rassemblement national abgelehnt habe. Die Partei biedere sich an und verspreche höhere Löhne und ein tieferes Rentenalter, so Verbeke. Doch es sei das Programm des Nouveau Front populaire, das den Bedürfnissen der Arbeitnehmer am besten gerecht werde.
Sind mehr Arbeitsplätze die Lösung?
Die Gewerkschaften sind nicht die Einzigen, die schon seit einiger Zeit versuchen, die Gunst der Arbeiter zurückzugewinnen. Auch Präsident Macron will den Leuten im Norden des Landes den Glauben an eine bessere Zukunft zurückgeben. Macron setzt dabei auf wirtschaftliches Wachstum: Unter dem Motto «Frankreich wiederbeleben» sollen Industrieregionen wie die um Dünkirchen wieder zu alter Grösse finden.
Dünkirchen war nach dem Zweiten Weltkrieg eine Stadt im Aufschwung und profitierte von der Nähe zu Städten wie London, Brüssel und Amsterdam sowie von der Schiffswerft und dem Hafen. Doch ab den 1980er Jahren gingen viele Firmen ins Ausland. Seitdem gingen Tausende Arbeitsplätze verloren, die Bevölkerungszahl in der Region schrumpft. Vielen Bewohnern fehlen Perspektiven.
Geht man durch die Dünkirchner Innenstadt zum Strand, bietet die Stadt Idylle pur: heller Sand, blauer Himmel, Möwen, die über dem Meer kreisen. Doch in der Ferne steigt noch immer Rauch aus Kaminrohren, von Fabriken, die Aluminium, Stahl oder Zement produzieren. Solche Fabriken gibt es immer noch – wenn auch immer weniger.
Nun soll in Dünkirchen die europaweit grösste Produktion von Batterien für Elektroautos entstehen. Macron hat es geschafft, wichtige Investoren anzuziehen: Drei Firmen haben in den vergangenen zwei Jahren in der Region Batteriefabriken eröffnet, bis 2026 sollen drei weitere hinzukommen. Zusammen investieren sie mehr als 8 Milliarden Euro, in zehn Jahren sollen 20 000 neue Arbeitsplätze entstehen. 40 000 neue Einwohner sollen insgesamt in die Region ziehen, das wäre ein Fünftel der heutigen Bevölkerung.
Die Sorgen der Einheimischen bleiben
Doch die ehrgeizigen Pläne scheinen nicht auszureichen, um die Leute umzustimmen. Im Gegenteil: In der Nachbargemeinde Gravelines befindet sich ein Atomkraftwerk, das zwei neue Reaktoren erhalten soll. Auch ein Windpark und Solaranlagen sind geplant. Aussichten auf neue Arbeitsplätze also – aber auch dort hat das RN bei der letzten Parlamentswahl 56,6 Prozent der Stimmen erhalten. In Loon-Plage, wo die grossen Industriefirmen ArcelorMittal und Aluminium Dunkerque angesiedelt sind, stimmten 61 Prozent für die Partei.
Damien Lacroix glaubt, dass die Pläne der Regierung an den Bedürfnissen der Bewohner vorbeizielen. «Klar begrüssen wir es, wenn neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Aber es bringt nichts, wenn nur neue Leute hierherziehen, sich aber die Situation der Einheimischen nicht verbessert.»
Lacroix bezweifelt, dass die vorhandene Infrastruktur ausreicht, um eine grosse Zahl neuer Bewohner aufzunehmen. «Es fehlt jetzt schon an Ärzten, Lehrern und Wohnraum», sagt der 32-jährige Schulrat, der sich bereits zum zweiten Mal um einen Parlamentssitz bewirbt. Lacroix fordert auch mehr Ausbildungsmöglichkeiten für die Bewohner vor Ort. «Ein Arbeiter ist ein Arbeiter, egal, ob er aus Dünkirchen kommt oder nicht. Aber auch die Einheimischen sollen von den neuen Arbeitsplätzen profitieren können.»
Auch Philippe Verbeke ist der Ansicht, dass die Schaffung von Arbeitsplätzen weniger einfach sei, als die Regierung sich das vorstelle. «Wenn jemand seine Arbeit im Stahlwerk verliert, kann er danach nicht unbedingt in der Batteriefabrik anfangen. Man merkt, dass solche Pläne von Technokraten in Paris geschaffen werden, die die Realität vor Ort nicht kennen.»
Die Linke ist sich nicht einig
Für Verbeke ist es die Schuld der liberalen Wirtschaftspolitik von Macron, dass sich die Situation der Arbeiter verschlechtert habe. Die Kaufkraft der Menschen sei drastisch gesunken, das Rassemblement national verspreche vermeintlich einfache Lösungen. «Ich stelle fest, dass viele kaum etwas über die Partei wissen», sagt er. Eine grosse Gefahr seien auch die sozialen Netzwerke: «Ich höre das immer wieder von jungen Arbeitern: Sie sehen auf Tiktok irgendwelche zugespitzten Videos von RN-Politikern und glauben alles, was sie hören.»
Damien Lacroix und Philippe Verbeke sind nicht allein mit ihren Bemühungen, in Dünkirchen einen Sieg des Rassemblement national zu verhindern. Julien Gokel, der sozialistische Bürgermeister der Gemeinde Cappelle-la-Grande, tritt im gleichen Wahlkreis an. Obwohl er einer Partei des neuen Linksbündnisses angehört, wird Gokel von der Präsidentenpartei unterstützt – als Alternative gegen die Extreme auf der linken und rechten Seite. Denn Damien Lacroix trägt das Parteilogo von La France Insoumise, die für viele Wähler der Mitte ein rotes Tuch darstellt.
So haben die Dünkirchner am Sonntag die Wahl zwischen je einem Kandidaten am rechten und am linken Rand und einem gemässigten linken Politiker – eine Situation, die für viele Wahlkreise symptomatisch ist. «Von dieser Spaltung auf linker Seite wird das RN am Ende profitieren», fürchtet Philippe Verbeke. Die Linke ist weniger geeint, als sie sich gibt – besonders in ihren ehemaligen Hochburgen könnte ihr das zum Verhängnis werden.