«Für Leib und Leben sind kleine Flüsse die grösste Gefahr», sagt der Hydrologe Andreas Zischg
Im Misox ist am Samstag ein Abschnitt der Nationalstrasse A 13 ;bei Lostallo weggespült worden. Samuel Golay / Keystone
Herr Zischg, vor zwei Wochen schrieben Sie in einer Medienmitteilung, dass Hochwasser in der Schweiz in Zukunft zu nie da gewesenen Schäden führen könnten.
Ich habe nicht damit gerechnet, dass es so schnell gehen würde, dass eine Autobahn davongespült wird! Ich komme gerade von einer Exkursion mit Studierenden aus Norwegen zurück und habe erst am Flughafen von dem Ausmass erfahren.
Wie aussergewöhnlich ist denn die derzeitige Hochwassersituation?
Für lokale Ereignisse sind die Situationen im Misox oder in Zermatt sehr extrem. Flächendeckend über die ganze Schweiz befindet sich die Situation am oberen Rand, aber es ist noch kein Extremereignis.
Werden solche Ereignisse zunehmen in der Schweiz aufgrund des Klimawandels?
Die Klimamodelle gehen davon aus, dass in der wärmeren Atmosphäre mehr Wassergehalt gespeichert werden kann und damit auch stärkere Niederschläge möglich sind. Genaue Prognosen auf einzelne Einzugsgebiete gibt es nicht, und wir können auch bei den derzeitigen Ereignissen nicht konkret sagen, ob diese vom Klimawandel beeinflusst sind. Aber wenn es mehr Starkregen gibt, müssen wir auch mit mehr Hochwassersituationen rechnen.
Ist der Hochwasserschutz hierzulande genügend gut ausgebaut für Ereignisse, die uns in der Zukunft erwarten könnten?
Der Hochwasserschutz ist eigentlich ausreichend. Doch in den letzten Jahren haben wir festgestellt, dass er immer wieder an den Anschlag kommt und zu wenig gut ausgebaut ist, um jegliches Risiko abzuwenden.
Also würde es mehr Schutzmassnahmen brauchen?
Der Hochwasserschutz ist nur immer so gut, wie man ihn als Gesellschaft einmal ausgehandelt hat. Kurz gesagt, hat man sich auf den bestmöglichen Kompromiss geeinigt zwischen Platz für Siedlungen, Strassen und Infrastruktur und Platz für den Fluss. Aber dieser Platz ist halt manchmal nicht gross genug. Doch wenn man andererseits überall fünf Meter hohe Mauern um die Flüsse bauen müsste, dann wäre das eine Beeinträchtigung der Lebensqualität. Zudem würde es immense Investitionen erfordern. Wir haben mit dem jetzigen Stand sicher ein gutes Kosten-Nutzen-Verhältnis gefunden. Wir müssen uns aber für die Zukunft Gedanken darüber machen, was wäre, wenn die Abflüsse aufgrund von klimatischen Veränderungen grösser würden.
Das heisst?
Wir fordern nicht einen grenzenlosen Ausbau des Hochwasserschutzes, das Risikomanagement in der Schweiz ist grundsätzlich gut. Aber bei Hochwasserschutzprojekten handelt es sich um komplexe Projekte, der Planungsprozess dauert oft bis zu 20 Jahre, und diese Schutzmauern haben eine Lebensdauer von bis zu 80 Jahren. Das heisst, wir planen jetzt den Hochwasserschutz bis zum Ende dieses Jahrhunderts. Und da müssen wir uns fragen, inwieweit halten wir jetzt Platz frei für die Flüsse in Anbetracht der klimatischen Veränderungen.
Zur Person
Andreas Zischg
Der Hydrologe ist Professor für Modellierung von Mensch-Umwelt-Systemen am Geografischen Institut der Universität Bern. Er leitet das Mobiliar Lab für Naturrisiken, welches sich mit der Simulierung von zukünftigen Hochwasserereignissen unter dem Einfluss des Klimawandels beschäftigt.
Die aktuelle Gefahrenkarte zeigte nur für die Bodenseeregion eine hohe Gefahrenstufe. Für den Rest der Schweiz war Stufe 1 oder 2 angegeben. Ist die Karte zu ungenau?
Für die Gefahrenkarte des Bundes werden nur Vorhersagen für die grossen Flüsse gemacht, da diese am ehesten vorhersagbar sind. Für kleine Flüsse wie die Matter Vispa in Zermatt oder die Seitenbäche im Misox können fast keine zuverlässigen Vorhersagen gemacht werden, weil es da extrem darauf ankommt, wo genau die Gewitterzelle durchzieht. Solche kleinräumigen Wettervorhersagen sind momentan noch sehr schwierig und damit einhergehend die hydrologischen Vorhersagen.
Kleinere Gewässer sind also risikoreicher, was Hochwasser anbelangt?
Für Leib und Leben sind kleine Flüsse die grössere Gefahr, weil sie unmittelbarer reagieren und der Wasserstand sehr schnell ansteigen kann. Bei den grossen Flüssen dauert es mehrere Stunden oder einen Tag, da kann die Feuerwehr noch mobile Schutzelemente aufbauen oder Personen evakuieren. Das grösste Risiko geht von den kleinen Gewässern in steilen Einzugsgebieten aus, zumal da noch Geschiebe hinzukommt. Also mitgeschwemmtes Material, wie das auch im Misox der Fall war, wo es das Stück der A 13 weggespült hat. Das können wir in den Wettervorhersagen unmöglich prognostizieren.
Ist das Bewusstsein für diese Risiken von kleinen Gewässern gross genug?
Überall dort, wo die Gemeindeverantwortlichen oder Personen vom Bevölkerungsschutz lange genug im Amt sind, ist noch sehr viel lokales Erfahrungswissen vorhanden. Entsprechend ist auch das Bewusstsein grösser, wie schnell so ein Bach über die Ufer gehen kann. Regionale Forstingenieure zum Beispiel, die ihr Leben lang in einem Gebiet gearbeitet haben, die kennen die kritischen Stellen sehr gut. Aber in den schnell wachsenden oder fusionierten Gemeinden fehlt manchmal dieses Wissen. Und das geht auch mit dem demografischen Wandel zunehmend verloren.
Inwiefern ist die Versiegelung ein Problem in Bezug auf Hochwasser?
Mittlerweile entfällt die Hälfte aller Schadensfälle an Gebäuden auf das sogenannte Oberflächenabfluss-Phänomen, sagen die Versicherer. Das tritt auf, wenn starker Regen direkt auf Asphalt oder umliegende Wiesen fällt und nicht mehr versickern kann. Also fliesst der Regen oberflächlich ab. Das ist nicht tief, vielleicht 20 oder 30 Zentimeter Wasser – aber es reicht, um Gebäudeschäden anzurichten. Dieses Phänomen wird im Moment noch unterschätzt.
Also ein selbst gemachtes Problem?
Ja, denn die Schäden nehmen nicht nur zu wegen der häufigeren Starkregen, sondern auch aufgrund der Bauweise. Man nennt dies auch «Baustilhochwasser». Früher hat man bei allen Gebäuden ein paar Treppenstufen eingebaut zum Eingang, auch Lichtschächte und Kellerfenster waren etwas erhöht. Bis in die 60er Jahre war der Baustil so, dass die Gebäude Wassermengen von 20 bis 30 Zentimetern Tiefe gut abgehalten haben. Mit den heutigen Fensterfronten, die bis zum Boden reichen, und mit ebenerdigen Terrassen läuft das Wasser direkt ins Haus. Deswegen führt ein eigentlich kleines Hochwasser recht schnell zu einem teuren Schaden.
Werden bei der Gefahrenzonenkarte die klimatischen Veränderungen genügend berücksichtigt?
Die Gefahrenkarte wird alle 5 bis 10 Jahre überarbeitet, und der Bund ist gerade dabei, die Richtlinien so anzupassen, dass der Klimawandel bei der nächsten Überarbeitung lokal berücksichtigt wird. Damit hätte man wieder ein Steuerungsinstrument für die Planung von Hochwasserschutz und Anpassungen im Gebäudebestand – und dann auch für die Notfallvorsorge.
Was heisst das genau?
Die Gefahrenkarte zeigt die gefährdeten Gebiete an. Und bei der Überarbeitung wird untersucht, ob es in diesem Einzugsgebiet relevante Veränderungen gab wie beispielsweise mehr Versiegelung oder Entwaldung, was die Hochwassergefahr erhöhen könnte. Und jetzt wird neu verlangt, dass bei jeder Überarbeitung in Zukunft zwei Karten erstellt werden: eine basierend auf dem heutigen Klima und eine für das zukünftige Klima unter Berücksichtigung der prognostizierten Veränderungen. Das heisst zum Beispiel, man rechnet 15 Prozent mehr Spitzenabfluss zum heutigen Hochwasserwert für ein Gewässer hinzu.
Sie haben für die Uni Bern ein Instrument mitentwickelt, mit dem sich berechnen lässt, wie sich die Klimaveränderung auf das Hochwasserrisiko von einzelnen Flüssen auswirken könnte.
Wir machen für einen bestimmten Fluss verschiedene Simulationen in Bezug auf die Abflussmenge, berechnen dann, bei welcher Wassermenge wie viele Gebäude betroffen wären, und schätzen die voraussichtlichen Schäden.
Und dann?
So erhalten wir praktisch für jeden Flussabschnitt quasi einen Fussabdruck oder eine Risikokurve. Also am Beispiel der Emme in Burgdorf erklärt: Die Emme hat eigentlich einen guten Hochwasserschutz, aber wenn sie mal über die Ufer geht, dann sind sofort sechs- bis siebentausend Gebäude unter Wasser. Das ist unseres Erachtens ein Fluss, der sehr schnell auf den Klimawandel reagieren wird und wo man auf einen Schlag Schäden von ein paar hundert Millionen Franken hätte. Und solche Flüsse haben wir mit dem Tool identifiziert. Umgekehrt gibt es auch Flüsse, die nicht reagieren. Und das ist aus unserer Sicht auch eine wertvolle Information.
Weil man so den Hochwasserschutz gezielter ausbauen könnte?
Genau, so können wir priorisieren und vermeiden, dass nach dem Giesskannenprinzip zu viel Hochwasserschutz ausgebaut wird. Allerdings müssen wir dazu sagen, dass das ökonomische Schutzpotenzial natürlich vor allem bei grossen Flüssen da ist. Das grösste Risiko für Leib und Leben bergen jedoch, wie gesagt, die kleinen Flüsse. Doch wir sind leider noch nicht so weit, dass wir das auch für die kleinen Gewässer in der ganzen Schweiz mit genügender Genauigkeit berechnen können.