Nach dem Hochwasser im Misox: Das Transportgewerbe erhebt weitreichende Forderungen
Die Autobahn zwischen dem Tessin und Graubünden ist bei Mesocco vom Hochwasser völlig zerstört worden. Michael Buholzer / Keystone
Die A 13 im Misox ist südlich von Mesocco auf einer Länge von etwa 200 Metern regelrecht fortgespült. Die Bilder lassen keinen Zweifel, dass diese Strasse für längere Zeit nicht befahrbar bleibt. Das hat weit mehr als nur lokale Auswirkungen.
Sehr rasch hat der Nutzfahrzeugverband (Astag) reagiert. Am Sonntag erhebt er in einer Mitteilung Forderungen, die noch zu reden geben. Unter anderem verlangt er die Prüfung einer temporären Aufhebung des Nacht- und Sonntagsfahrverbots für den Schwerverkehr auf der Gotthardroute. Im Interesse der Versorgung und Entsorgung seien nun Solidarität und Offenheit in allen Kantonen nötig, wird Astag-Zentralpräsident Thierry Burkart zitiert, der auch Präsident der FDP Schweiz ist.
Die wichtigste Frage derzeit, wie lange die Reparatur dauern wird und wann die Verbindung wieder durchgängig befahrbar ist, kann das Bundesamt für Strassen (Astra) noch nicht beantworten. Das lasse sich erst abschätzen, wenn das Ausmass des Schadens erhoben sei, sagt auf Anfrage der NZZ Astra-Mediensprecher Lorenzo Quolantoni. Dafür herrsche aber noch zu starkes Hochwasser.
Das Astra will deshalb auch nicht darüber spekulieren, welche Auswirkungen der Unterbruch der A13 für den Ferienverkehr haben könnte. Sicher sei nur, dass der Schaden an der Autobahn nicht innert Tagen behoben werden könne, sagt Quolantoni. Meldungen in den Medien, dass dies Monate dauern werde, könne er aber weder bestätigen noch dementieren.
Immerhin sieht das Astra in der ganzen Zerstörung einen kleinen Lichtblick. Zum Zustand der vom Hochwasser betroffenen Brücke Buffalora konnten bereits erste Abklärungen vorgenommen werden. Diese hätten ergeben, dass kein grosser Schaden entstanden sei, sagt Quolantoni.
Etwa 350 Lastwagen im Tag betroffen
Auch für Aussagen, wie man den Nord-Süd-Verkehr auf den Strassen in den nächsten Wochen bewältige, ist es laut dem Astra noch zu früh. Angesichts der ungewissen Lage erstaunt die forsche Forderung aus der Schwerverkehrsbranche.
Auf Nachfrage rechnet André Kirchhofer, Vizedirektor des Astag, vor, dass lauf dem Verlagerungsbericht des Bundes 14 Prozent des alpenquerenden Güterverkehrs über den San Bernardino abgewickelt werden. Es gehe also nicht um Tausende Lastwagen, sondern um etwa 350 pro Tag. Der Verband schreibt, das Transportgewerbe werde in den nächsten Tagen gut zurechtkommen und attestiert dem Astra ein gut funktionierendes Krisenmanagement, etwa als im letzten September der Gotthardtunnel ein paar Tage lang gesperrt war.
Gleichwohl fordert der Astag rasch wirksame Massnahmen. Zunächst sei der lokale Güterverkehr allenfalls mit Unterstützung der Armee möglichst bald sicherzustellen. Wann die Kantonsstrasse im Misox wieder geöffnet werden kann, ist laut der Kantonspolizei Graubünden noch offen. Nach ihrer Einschätzung kann sie jedoch den Verkehr der A 13 nicht vollständig übernehmen. Weiter fordert der Transportverband eine internationale Koordination zur weiträumigen Umleitung des Gütertransits über Routen durch Österreich und Frankreich.
Politisch brisanter sind die beiden weiteren Punkte: Die Kapazität der Gotthardroute soll durch eine Anpassung des geltenden Dosiersystems zugunsten des Schwerverkehrs erhöht werden. Dieser soll überdies während der Unterbrechung im Misox vom Nacht- und Sonntagsfahrverbot befreit werden.
Damit diese Massnahmen Wirkung entfalten, ist es für den Astag zentral, dass in der kommenden Ferienzeit möglichst viel Personenverkehr mit der Bahn abgewickelt wird. Auf diese Weise sei eine Verlagerung des Verkehrs viel rascher und einfacher möglich.
Der Weg über die Pässe suchen
Sorge bereitet die Situation auch dem TCS. Der Automobil-Verband empfiehlt bei Verkehrsüberlastung an den Portalen des Gotthardtunnels jeweils, auf die Route über den San Bernardino auszuweichen. Diese Alternative fällt nun für längere Zeit weg.
Schon am Samstag und Sonntag staute sich der Verkehr sowohl im Norden als auch im Süden des Tunnels. In welchem Ausmass das bereits auf den Unterbruch der A 13 im Misox zurückzuführen ist, könne man schwer sagen, sagt TCS-Sprecher Massimo Gonella. Auf jeden Fall sei an den kommenden Wochenenden und während der Ferienzeit mit einer konstanten Überlastung auf der wichtigsten Nord-Süd-Achse zu rechnen.
Eine Alternative auch aus dem Raum Zürich ist die Fahrt über den Gotthardpass. Glücklicherweise seien inzwischen ja alle Passstrassen geöffnet, sagt Gonella. Er empfiehlt in nächster Zeit aber, selbst aus der östlichen Hälfte der Schweiz den Weg über das Berner Oberland und das Wallis, mit Bahnverlad Lötschberg und Simplon zu bevorzugen, um nach Italien zu gelangen. Das sei zwar deutlich weiter, aber möglicherweise angenehmer, als während Stunden im Stau zu stehen.
Erschwerend kommt in diesem Jahr hinzu, dass der Arlbergtunnel, die Verbindung zu Tirol in Österreich, seit April wegen Bauarbeiten ein halbes Jahr gesperrt ist. Laut TCS-Sprecher Gonella sei in den letzten Wochen eine Zunahme des Verkehrs aus dem süddeutschen Raum durch die Schweiz Richtung Süden festzustellen gewesen.
Tessiner befürchten abschreckende Wirkung
Direkt am Südportal des Gotthard-Strassentunnels liegt Airolo. Dessen Gemeindepräsident Oscar Wolfisberg rechnet in den nächsten Wochen mit einer Zunahme des Transitverkehrs und mit mehr Staus. Aber wie sich die Lage den Sommer über entwickelt, kann er noch nicht beurteilen.
Vermutlich müsse das Tessin im Sommer grösstenteils ohne die Entlastungsroute A 13 auskommen, meint Bellinzonas Vizestadtpräsident Fabio Käppeli. Laut seinen Worten werden die nach Süden rollenden Touristenautos nicht nur am Wochenende auf der A2 für Engpässe sorgen. Wenn in der Deutschschweiz und gestaffelt in den deutschen Bundesländern die Sommerferien beginnen, dürfte es schon ab Wochenmitte immer wieder zu Kolonnen und Staus auf der Gotthardstrecke kommen. Daher rät Käppeli den Tessin- und auch Italientouristen aus dem Norden, den Zug zu nehmen und eine stressfreie Reise zu geniessen.
Die SBB klären in den nächsten Tagen ab, ob wegen der A 13-Schliessung die Zahl der Zugspassagiere auf der Gotthardstrecke zunimmt. Mit Blick auf die nahenden Sommerferien wollen sie dann über eine mögliche Aufstockung der Zugsverbindungen entscheiden. Aber auf der Gotthard-Bahnstrecke herrscht schon seit längerem ein Engpass. Der Neat-Basistunnel ist für den Personenverkehr bis September grösstenteils geschlossen: Dies verlängert die Fahrzeit um eine Stunde und behindert vor allem den Tagestourismus.
Zusammen mit der Schliessung der A 13 werde so das Tessin immer schlechter erreichbar, urteilt der Bellenzer Tourismusdirektor Juri Clericetti. Deshalb würde er es begrüssen, wenn die SBB den Neat-Basistunnel so früh wie möglich für den Personenverkehr öffnen würden. Ausserdem befürchtet Clericetti einen Imageschaden für das Tessin. Wegen der drohenden Staus und der längeren Zugsverbindungen werde es immer schwieriger, in den Südkanton zu gelangen.
Diesen Umstand könnten die Touristen als schlechten Service auffassen und andere Destinationen bevorzugen. Das betrifft auch jene, die kurzfristig buchen. Bei ihnen spielt zusätzlich noch die Wettersituation eine grosse Rolle – und just diese ist seit Wochen ungünstig. Also wird das Wetter noch mehr ins Gewicht fallen als ohnehin schon.
Kurzfristig komme es zu keinem Rückgang der Übernachtungen im Südkanton. Davon ist Max Perucchi von der Tessiner Sektion des Verbandes Hotelleriesuisse überzeugt. Wer zum Beispiel im Hinblick auf Locarnos nahende Open-Air-Konzerte «Moon & Stars» reserviert habe, der werde erfahrungsgemäss auch kommen. Doch was passiert ab Mitte Juli, wenn vor allem in der Ostschweiz und in etlichen deutschen Bundesländern die Sommerferien beginnen?
Hier stellt sich die Frage, ob die Kantonsstrasse durch das Misox geöffnet sein wird, um wenigstens einen Teil des Transitverkehrs nach Süden aufzufangen. Denn diese könnte in Perucchis Augen für Entlastung sorgen. Und vor allem den zu erwartenden Kolonnen am Gotthard etwas von ihrem Schrecken nehmen.