«Die Schweiz gewinnt. Und dann ist alles möglich»

Der Co-Präsident der SP ist schweizerisch-italienischer Doppelbürger. Er sagt, für welches der beiden Länder sein Fussballherz schlägt. Und was ihm sein italienischer Pass bedeutet.

«die schweiz gewinnt. und dann ist alles möglich»

«Es gibt doch dieses Gefühl, zu Hause zu sein – das habe ich, wenn ich in Italien bin»: Cédric Wermuth zwei Tage vor dem grossen Spiel im Hauptbahnhof Zürich.

Cédric Wermuth ist zwar im Aargau aufgewachsen, hat aber eine italienische Grossmutter und neben dem Schweizer auch einen italienischen Pass. Er schildert, wie sein Vater in den 1960er-Jahren als «Tschingg» beschimpft wurde und welche Rolle die italienische Migrationsbewegung für die Schweizer Linke spielte. Vor allem aber gibt der Co-Präsident der SP einen Tipp für den EM-Achtelfinal zwischen der Schweiz und Italien vom Samstag.

Herr Wermuth, Sie haben einen Schweizer und einen italienischen Pass. Am Samstag spielen die beiden Länder im EM-Achtelfinal gegeneinander. Wie zerrissen fühlen Sie sich?

Zerrissen wäre übertrieben, aber das Spiel führt in meiner Familie schon zu Diskussionen, wenn auch zu eher scherzhaften. Ich würde sagen, die Schweiz ist am Samstag favorisiert. Italien hat bisher nicht überzeugt.

Ja, gut, aber nehmen wir an, es kommt zum Penaltyschiessen. Für wen schlägt Ihr Herz?

Ich bin in der Schweiz aufgewachsen und erst 2002 in Italien formell eingebürgert worden. Deshalb, wenn es hart auf hart kommt: beim Fussball für die Schweiz. Beim Curling nicht, da bin ich für Italien.

Beim Curling?

Ein Coucousin von mir spielt in der italienischen Nationalmannschaft, darum.

Wie verlief Ihre italienische Familien­geschichte?

Meine Grossmutter ist in den 1930er-Jahren vor dem Faschismus aus dem Cembratal im Trentino in die Schweiz geflüchtet, wo sie meinen Grossvater kennen lernte, einen Emmentaler. Mein Vater ist in der Schweiz als halber Secondo aufgewachsen. Aber weil es meine italienische Grossmutter unterlassen hatte, für ihre Kinder die italienische Staatsbürgerschaft zu beantragen, besass er lange keinen italienischen Pass mehr. Wir haben dann den Antrag gestellt und wurden 2002 gemeinsam wieder Italiener. Ich spreche einigermassen Italienisch, wir haben einen Familienchat mit Cousins und Cousinen in Italien, und ich konsumiere italienische Medien. Das Verständnis der Sprache ist schriftlich und mündlich kein Problem.

Wie verbunden fühlen Sie sich Italien?

Ich war als Kind oft in Italien in den Ferien, aber eine wirkliche emotionale Beziehung ist erst mit der Zeit entstanden. Auch, weil ich durch die italienische Staatsbürgerschaft gleichzeitig EU-Bürger geworden bin. Italien hat mir den Zugang zu Europa ermöglicht, das bedeutet mir viel. Es gibt doch dieses Gefühl von zu Hause sein, kennen Sie das? Das fühle ich heute auch, wenn ich in Italien bin.

«Mein Vater ist noch als Tschingg beschimpft worden.»

Werden Sie wegen Ihrer doppelten Staats­bürgerschaft auch angefeindet?

Nicht so häufig wie Politikerinnen und Politiker, deren Migrationshintergrund im Namen erkennbar ist. Aber auch ich erhalte immer wieder Mails mit der Aufforderung, dorthin zurückzukehren, wo ich hergekommen bin. Was in meinem Fall allerdings das Aargauer Freiamt wäre. Abgesehen von solchen Nebelpetarden geht es dabei um etwas Entscheidendes: Die kulturelle Mehrfachzugehörigkeit ist in unserer Gesellschaft etwas absolut Normales geworden, mehr noch, sie ist eine der grossen Stärken unseres Landes. Das betonen wir viel zu wenig. Stattdessen haben wir immer nur die Matterhorn-Schweiz vor Augen. Das Land war in den 1950er und 60er-Jahren schon sehr engstirnig und eintönig. Die Migrantinnen und Migranten haben mitgeholfen, es seither lebenswerter zu machen. Deshalb stört mich die Diskussion, ob es problematisch sein könnte, wenn man als Politikerin oder als Politiker einen zweiten Pass besitzt.

Italienerinnen und Italiener sind heute sehr beliebt in der Schweiz. Es gibt wohl kaum eine erfolgreichere Integrations­geschichte.

Ich mag den Begriff Integration nicht besonders, weil er suggeriert, dass sich unzivilisierte Barbaren gefälligst an die hochstehende Mehrheitsgesellschaft anzupassen haben. Aber wenn man die italienische Immigration in die Schweiz und ihre Entwicklung heute nur als grossen Erfolg feiert, verdrängt man, wie schwierig, traumatisch und schmerzhaft sie war.

Was meinen Sie damit konkret?

Mein Vater ist noch als Tschingg beschimpft worden und musste täglich beweisen, dass er ein guter, angepasster Schweizer ist. Er hat in den 1960er-Jahren Aufschriften an Restaurants lesen dürfen, auf denen stand: «Hunde und Italiener verboten». Seine Generation hat noch die Baracken erlebt, in denen damals die italienischen Arbeiterinnen und Arbeiter hausten. Das Bewusstsein, als Arbeitskräfte zwar ökonomisch erwünscht, aber als Menschen mitsamt ihren Kindern nicht wirklich willkommen zu sein, wirkt bei vielen bis heute nach. Die italienische Erfolgsgeschichte in der Schweiz ist nur eine Seite. Sie hat etwas zutiefst Zwiespältiges. Die Schweizer Mehrheitsgesellschaft hat es verpasst, sich bei den Italienerinnen und Italienern und allen anderen Migrantinnen, etwa auch jenen aus dem Balkan, aus der Türkei, aus Portugal und aus anderen Ländern anständig für ihren enormen Beitrag zum Aufbau dieses Landes zu bedanken. Es gibt bis heute auch keine Entschuldigung für die Ungerechtigkeiten, die man ihren Kindern und Familien angetan hat. Als mein Vater 2002 die italienische Staatsbürgerschaft zurückerhielt, hat er vor Freude geweint. Es war ein sehr emotionaler Moment, auch für mich.

«die schweiz gewinnt. und dann ist alles möglich»

«Die Schweizer Gesellschaft hat es verpasst, sich bei den Italienerinnen und Italienern zu bedanken»: Cédric Wermuth.

Wie wichtig war die italienische Diaspora für die Linke?

Der Einfluss der italienischen Arbeiterbewegung auf die Gewerkschaften und die Schweizer Linke kann gar nicht überschätzt werden. Es gibt in der Schweiz seit dem Zweiten Weltkrieg keine sozialpolitische Errungenschaft, die nicht von der italienischen Migrationsbewegung miterkämpft wurde. Frauenstimmrecht, Abschaffung des Saisonnierstatuts, Kitas, flankierende Lohnschutzmassnahmen – nehmen Sie, was Sie wollen.

Die Schwarzenbach-Initiative, bei deren Annahme 1970 rund 300’000 Italienerinnen und Italiener abgeschoben worden wären, stiess bei Schweizer Gewerkschaftern aber auf sehr grosse Zustimmung.

Ja, es gab damals in den Gewerkschaften massive fremdenfeindliche Tendenzen, das ist unbestritten. Aber die offenen Kräfte haben diese Auseinandersetzung zum Glück gewonnen, gerade auch mit den italienischen Kollegen zusammen. Für viele von ihnen war die Gewerkschaft übrigens Heimat, bevor es die Schweiz wurde. Diese Leistung der Gewerkschaften wird unterschätzt. Mit Vania Alleva ist heute eine Seconda die Chefin der grössten Schweizer Gewerkschaft, was in den meisten Ländern Europas nach wie vor undenkbar wäre.

Heute zirkulieren über Italien fast nur positive, oft geradezu kitschige Klischees. Stört Sie das? Oder singen Sie selber «Bella Ciao» unter der Dusche?

Natürlich nicht, aber oft haben Klischees ja einen wahren Kern. Und für mich ist es bis heute rätselhaft, dass in Italien eine demokratische, bewundernswert rebellische Kultur existieren kann und dann trotzdem Figuren wie Silvio Berlusconi oder Giorgia Meloni an die Macht kommen. Wie das italienische Chaos genau funktioniert, verstehe ich bis heute nicht wirklich. Aber wenn ich italienische Freunde und Verwandte besuche, stelle ich fest: Sie verstehen es im Grunde auch nicht. Italien ist immer alles zugleich, es gibt unglaublich dynamische, aufstrebende Städte wie Mailand, Bari oder Bologna, aber was habe ich mich genervt, als ich kürzlich in Rom war. Kein Busfahrplan stimmt, nichts ist organisiert, überall ein einziges Chaos.

Berlusconi, Salvini, Grillo, Meloni – politisch muss Italien für Sie doch ein einziges Katastrophen­gebiet sein.

Einerseits ja. Aber andererseits finde ich es beeindruckend, wie viel Widerstandsgeist die italienische Zivilgesellschaft immer wieder entwickelt hat. Im Moment erlebt die italienische Sozialdemokratie gerade eine politische Wiedergeburt. Dank Elly Schlein, der neuen Vorsitzenden des Partito Democratico.

Schlein gehört derselben Generation an wie Sie und ist ebenfalls italienisch-schweizerische Doppelbürgerin.

Ja, ich kenne sie persönlich ziemlich gut. Wir tauschen uns regelmässig aus, sie hat mir vor zwei Tagen zur Wahl von Alain Berset zum Generalsekretär des Europarates gratuliert und ich ihr zum hervorragenden Abschneiden des Partito Democratico bei den Regionalwahlen. Schlein ist im Tessin aufgewachsen. Sie kennt und versteht unser politisches System. Unsere politischen Positionen sind sehr ähnlich. Wirtschaftspolitisch klar links, gesellschaftspolitisch offen, und der Kampf gegen die Klimakrise hat für uns beide hohe Priorität.

Der Aufstieg der italienischen Rechts­populisten und Postfaschisten beruht vor allem auf einem Überdruss an der Classe politique und den traditionellen Parteien. Also auch am Partito Democratico.

Zweifellos. Die italienischen Linken haben den Generationenwechsel jahrelang verschlafen. Und ihre Obsession, sich zu zerstreiten, sich trotz einer erdrückenden rechten Gegnerschaft immer wieder zu spalten – das ist geradezu phänomenal. Aber ich habe die Hoffnung, dass es unter Schlein besser wird.

«Ich habe schon daran gedacht, wie es wäre, in Italien Politiker zu sein.»

Giorgia Melonis Popularität hält für italienische Verhältnisse erstaunlich lange an.

Ja, und es scheint ihr sogar das in Italien ausserordentliche Kunststück zu gelingen, eine ganze Legislatur durchzuregieren, ohne gestürzt zu werden.

Vielleicht macht sie etwas richtig?

Sie verspricht den Italienerinnen und Italienern die Stabilität, welche die Linke zuvor nicht geschaffen hat. Aber sie vertritt gesellschaftspolitisch eine klar rechte Agenda, sie spaltet das Land, beschneidet die Unabhängigkeit von Justiz und Medien. Insofern macht sie nichts richtig. Und ich bin ziemlich sicher, dass sie dabei scheitern wird, durch eine Verfassungsreform ein semipräsidentielles System mit einem übermächtigen Premier einzurichten. Das entspricht nicht der italienischen Nachkriegs-DNA. Dieses Vorhaben wird sie entzaubern.

Wären Sie manchmal lieber in Italien Politiker?

Den Gedanken hatte ich schon. Doch da muss ich einige enttäuschen, denen das vielleicht lieber wäre: Dafür kann ich zu wenig Italienisch.

Für einen guten Zweck lässt sich das lernen.

Es ist ohnehin nicht mehr als ein Gedankenspiel, aber tatsächlich liegt mir die harte italienische Art der politischen Konfrontation mehr als die Nettigkeit, die hierzulande vorherrscht.

Steckt hinter dem Gedankenspiel auch ein gewisses Bedauern darüber, dass der internationale Einfluss, den Sie als Schweizer Parlamentarier ausüben können, eher überschaubar ist?

Ja, das ist so. Vor allem ist es für die Schweizer Linke bitter, sich kaum am europäischen Einigungsprozess beteiligen zu können.

Sind Sie Mitglied des Partito Democratico?

Ja, und ich beteilige mich auch an den italienischen Wahlen. Was übrigens durchaus zwiespältig ist. Warum soll ich, dessen Lebensmittelpunkt eindeutig in der Schweiz liegt, in einem anderen Land wählen dürfen? Gleichzeitig dürfen in der Schweiz jene 25 Prozent der Bevölkerung, die einen ausländischen Pass haben, nicht wählen und abstimmen. Das halte ich für einen der grössten politischen Skandale unserer Zeit. Aber gut, jede Stimme gegen Meloni zählt. Darum wähle ich trotzdem in Italien.

Kommen wir nochmals zurück auf das Spiel vom Samstag. Wie lautet Ihr Tipp?

Eigentlich nervt es mich ja, dass die Schweizer Nationalmannschaft hierzulande bei jedem Turnier als Geheimfavoritin gehandelt wird, und dann? Zack, grausames Versagen. Aber diesmal halte ich es mit dem grossen italienischen Linken Antonio Gramsci: Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens! Die Schweiz gewinnt, ich tippe auf 2:1. Und dann ist alles möglich …

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