Brandmauer oder Koalition? Die AfD und das Bündnis Sahra Wagenknecht könnten gemeinsam in Ostdeutschland regieren
Der Spitzenkandidat der sächsischen AfD, Jörg Urban, hofft auf eine absolute Mehrheit der Sitze, wäre aber zu Gesprächen mit dem BSW bereit. Maja Hitij / Getty Images Europe
In jenen drei ostdeutschen Bundesländern, in denen im September ein neuer Landtag gewählt wird, könnten die Alternative für Deutschland und das Bündnis Sahra Wagenknecht zusammen eine absolute Mehrheit der Sitze erreichen. Dann fiele dem BSW die Rolle des Königsmachers zu. Es läge in der Hand von Wagenknecht und ihren Getreuen, ob es in Thüringen, Sachsen oder Brandenburg zum ersten Ministerpräsidenten der AfD kommt. Doch welche inhaltlichen Schnittmengen gibt es, welche personellen Annäherungen zwischen den Rechten und jener Partei, die «linkskonservativ» sein will?
Um eine neue Partei zu gründen, muss man vor allem eins sein: unzufrieden mit denen, die es schon gibt. So entstand die AfD aus der Enttäuschung über die CDU, die unter Bundeskanzlerin Angela Merkel nach links gedriftet war und nicht mehr für jene konservativen Positionen stand, die ihr jahrzehntelang Mehrheiten gesichert hatten. Und so entstand auch das BSW – aus der Enttäuschung über die Gesellschaftspolitik der Partei Die Linke, insbesondere über deren Identitäts- und Migrationspolitik.
Die AfD wirft dem BSW Wählertäuschung vor
Die Führungsfigur Wagenknecht ist laut dem Meinungsforschungsinstitut Insa die drittbeliebteste Politikerin in Deutschland. Gemeinsam mit der früheren Linke-Fraktionschefin Amira Mohamed Ali bildet sie das Führungsduo des BSW. Auch der Nahostexperte Michael Lüders, der Corona-Massnahmen-Kritiker Friedrich Pürner und der ehemalige Sozialdemokrat und Düsseldorfer Oberbürgermeister Thomas Geisel schlossen sich an. Offiziell hält das neue Bündnis an einer Brandmauer zu den Rechten fest. Diese wiederum betonen die hohe Unwahrscheinlichkeit einer solchen Zusammenarbeit, schliessen sie aber nicht kategorisch aus.
Besonders gross ist die wechselseitige Abneigung in Thüringen. Derzeit addieren sich dort zwar die Zustimmungswerte der beiden Parteien auf annähernd 50 Prozent. Atmosphärisch herrscht aber Eiszeit. Der zweite Landesvorsitzende der AfD, Stefan Möller, empörte sich über einen Artikel in der «Thüringer Allgemeinen». Diese hatte berichtet, dass die von der Linken zum Bündnis gewechselte Eisenacher Oberbürgermeisterin Katja Wolf nicht allen Stadträten die Hand gab, als sie in ihr Amt eingeführt wurden. Die sieben AfD-Vertreter strafte Wolf auf diese Weise. Möller schrieb bei Telegram: Wolf sei «eine auch im Verhalten klassische Linke, die Andersdenkende menschlich abwertet». Justament diese Katja Wolf aber hat Sahra Wagenknecht nun als künftige Ministerpräsidentin ins Spiel gebracht.
Im Gespräch mit der NZZ wird Möller deutlich: Viele Personen hinter Wagenknecht verträten teilweise «hart linksradikale Positionen, die eine Trendwende in der Migrationspolitik faktisch ausschliessen». Letztlich betreibe das BSW Wählertäuschung. Gerade Wagenknechts «migrationspolitische Lockangebote an die Wähler» würden von führenden Funktionären abgelehnt. Eine Regierungskoalition mit dem BSW sei nur «rein theoretisch» denkbar.
Ähnlich formuliert es Möllers Vorstandskollege Torben Braga: Beim BSW handele es sich um die Linkspartei ohne deren Label. Es sei eher ein Partner für die CDU als einer für die AfD. Mit dem BSW, so Braga weiter, werde versucht, einen «Ausgangsweg aus der verfahrenen Situation in Thüringen zu schaffen». Darum sei es medial überrepräsentiert. Dieses doppelte Argumentationsmuster gilt in weiten Teilen der AfD: Die neue Konkurrenz wird verdächtigt, ihre Wähler an der Nase herumführen zu wollen, und sie wird als Laufzeitverlängerung für die bedrängten etablierten Parteien gedeutet.
Die Befürchtungen der AfD, das BSW könnte vor allem auf Kosten der Rechten wachsen, haben sich bisher nicht bestätigt. Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament erhielt das Bündnis überdurchschnittlich viele Stimmen ehemaliger Sozialdemokraten und Linke-Wähler.
Gesellschaftspolitisch gibt es Überschneidungen
Der neue Brandenburger AfD-Landesvorsitzende René Springer spricht von einer «Oppositionsattrappe». Das BSW sei eine programmatische Blackbox, deren weitere Entwicklung unabsehbar sei. Er, Springer, vermute, das Bündnis werde nach den Wahlen den bequemeren Weg gehen und sich also der AfD verweigern. Seine eigene Partei werde mit allen reden, «wir kennen keine Brandmauern».
Derzeit erreicht die AfD in Brandenburg bei Umfragen 25, das BSW hingegen 13 Prozent. Gegen den amtierenden sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Dietmar Woidke tritt der Fraktionsvorsitzende der AfD im Potsdamer Landtag an, Hans-Christoph Berndt. Er sagt der NZZ, wenn das BSW eine Zusammenarbeit mit der Alternative für Deutschland ausschliesse, erweise es sich als «jüngste Altpartei». Auch dadurch wird deutlich: Die AfD wäre trotz inhaltlichen Differenzen zu einer Kooperation mit dem BSW bereit.
Das BSW steht für eine Wirtschafts- und Sozialpolitik, die stark auf den Staat setzt. Damit befindet es sich keineswegs im Gegensatz zum sogenannten sozialpatriotischen Lager der AfD, das im Osten dominiert. Das Bündnis will Wohlstand zulasten der Reichen umverteilen und diese stärker besteuern. Die Sozialleistungen sollen weiter steigen, Leistungen bei Arbeitslosigkeit und Rente ebenso, der Mindestlohn soll erhöht werden. Die Energiepreise will man senken, auch indem man Öl und Gas wieder von Russland liefern lässt. Diese Forderung wird von der AfD unterstützt.
Aussenpolitisch strebt das BSW eine neue europäische Friedensordnung an, die längerfristig Russland einschliesst. Diese Agenda findet sich auch im Programm der AfD zu den Europawahlen. Dort heisst es: «Zur Wiederherstellung des ungestörten Handels mit Russland gehören die sofortige Aufhebung der Wirtschaftssanktionen gegen Russland sowie die Instandsetzung der Nord-Stream-Leitungen.» Deutschland solle «mit diplomatischen Mitteln auf eine Beendigung des Krieges hinwirken und so auch für friedliche deutsch-russische Beziehungen sorgen».
Auch auf dem Gebiet der Gesellschaftspolitik gibt es Überschneidungen. Sahra Wagenknecht hat in ihrem Buch «Die Selbstgerechten» die moralische Überheblichkeit der modernen Linken kritisiert, die sich auf identitätspolitische Fragen und Themen wie Gender, Diversität und kulturelle Identität konzentriere und damit den Bezug zu Arbeitern und unterer Mittelschicht verliere. Dadurch würden sich die Menschen von der Politik abwenden. Die AfD lehnt «ideologische Projekte wie Genderismus, Multikulturalismus oder Identitätspolitik» ebenfalls ab.
Die AfD strebt in Sachsen eine Alleinregierung an
Bei der Migrationspolitik gibt sich das Bündnis Sahra Wagenknecht restriktiv. Es will eine Neugestaltung der Migrations- und Asylpolitik mit Asylverfahren an den Aussengrenzen und in Drittstaaten. Auf diesem Feld könnte sich das BSW mit der AfD vermutlich einigen. Jedoch steht im Europa-Programm des BSW auch: «Menschen, die aus politischen, religiösen oder anderen Gründen verfolgt werden und deshalb aus ihrer Heimat fliehen müssen, haben ein Recht auf Asyl.»
Der frühere Bundestagsabgeordnete der Linkspartei Fabio De Masi ist als einer von sechs Abgeordneten des BSW soeben ins Europäische Parlament gewählt worden. Das Bündnis bekam 6 Prozent der Stimmen – ein Achtungserfolg, den es bei den anstehenden Wahlen im Osten übertreffen dürfte. Fragt man ihn, ob es zur Zusammenarbeit mit der AfD angesichts inhaltlicher Übereinstimmungen und einer demoskopischen Mehrheit kommen könnte, reagiert er ungehalten. Das BSW, sagt De Masi, habe mehrfach Koalitionen mit der AfD ausgeschlossen, zuletzt nach der Europawahl. Für ihn sei schon die Frage nicht nachvollziehbar.
Die grössten Chancen auf ihren ersten Ministerpräsidenten hat die AfD in Sachsen. Dort rangiert sie nicht nur in den meisten Umfragen vor der gemeinsam mit den Grünen und der SPD regierenden CDU. Es könnte auch sein, dass der nächste Dresdner Landtag nur drei Parteien umfasst, die AfD, die CDU und das derzeit auf 15 Prozent taxierte Bündnis.
Sollte der Spitzenkandidat und Landesvorsitzende Jörg Urban tatsächlich den Sieg erringen, will auch er bei allen Parteien nach Schnittmengen suchen. Ziel, sagt er, bleibe jedoch, stark genug für eine Alleinregierung zu werden. Bei einem Drei-Parteien-Parlament könnten 40 Prozent der abgegebenen Stimmen für eine absolute Mehrheit reichen. Darauf setzt Urban. Der bisherige demoskopische Höchstwert für die AfD betrug Anfang dieses Jahres 35 Prozent.
Ein Koalition oder Kooperation von BSW und AfD würde voraussetzen, dass die «Linkskonservativen» von ihrer Brandmauer und die Nationalkonservativen von ihren migrationspolitischen Maximalforderungen abrückten. Auch scheint es fraglich, ob die programmatischen Unterschiede zwischen einer mehrheitlich linken und einer gerade im Osten stramm rechten Partei je überwunden werden können. Doch nach jeder Wahl gilt bekanntlich der Satz aus Schillers «Wallenstein»: «Vor Tische las man’s anders.»