«KuFu» Superstar – wie ein St. Galler die Schweizer Politik dominierte
Volksnaher, als viele denken: Kurt Furgler begeistert sich auf der ;Bundesratsreise 1979 für die Talerschwinger im Toggenburg. Schmidt/Keystone
Spitznamen sind Glückssache. Doch im Fall von Kurt Furgler, dem legendären Bundesrat aus St. Gallen, haben sich seine Freunde aus der Studentenverbindung einst selbst übertroffen: Sie nennen ihn vulgo «Müüli». Weil er so gut reden kann. Aber vielleicht auch, weil sich sein Mund, schmallippig und klein, wie er ist, noch weiter zusammenzieht, wenn er seine Wortsalven ausstösst.
Später heisst es, ein Zucken seiner Mundwinkel genüge, um im Bundeshaus zu regieren. Tatsächlich kann er seine Gegner gnadenlos abkanzeln, sorgsam aufgebaute Argumentationen mit wenigen Worten zerlegen. Er tut es nicht selten mit Witz. Als ihn im Parlament einmal ein Nationalrat der fremdenfeindlichen Nationalen Aktion wegen der Asylpolitik zum Rücktritt auffordert, erwidert Furgler: «Ich passe mich dem Niveau Ihrer Frage an und stelle das Pult tiefer» – was er auch tut.
Doch Furgler ist über die Rhetorik hinaus eine Ausnahmefigur der jüngeren Schweizer Geschichte. Seine Biografie umfasst gleich mehrere brillante Karrieren, die er scheinbar mühelos und in horrendem Tempo kombiniert.
«Müüli» in Aktion: ;Bundesrat Furgler am Rednerpult im Nationalratssaal, undatierte Aufnahme. Photopress-Archiv / Keystone
Als Politiker verweigert er sich einer Schubladisierung: Er ist sicher kein Linker, aber auch nicht wirklich ein Rechter. Er ist als gläubiger Katholik ein Konservativer und zugleich ein Reformer. Er ist Mitglied einer Partei, die dem Bundesstaat traditionell misstrauisch gegenübersteht, will aber den Zentralstaat stärken.
Selbst viele politische Kontrahenten sind voll des Lobes. Ein freisinniger Ständerat sagt: «Für mich ist sein gravierendster Fehler, dass er kein Freisinniger ist.» Und eine SP-Nationalrätin meinte: «Der Kopf von Kurt Furgler funktioniert perfekt. Er ist geordnet und schnell wie das Gedächtnis eines Computers [. . .]. Er bietet dauernd das verführerische Schauspiel der Intelligenz in Aktion.»
Sport als Lebensschule
Kurt Furgler, geboren am 24. Juni 1924, wächst im katholischen Milieu St. Gallens auf. Sein Vater ist ein Stickereiunternehmer, der sich nach dem Niedergang der Branche zum Treuhänder umschulen muss. Die Familie mit fünf Kindern lebt in bescheidenen Verhältnissen. Kurt, der Zweitälteste, ist ein Musterschüler, er studiert Recht, promoviert zum Dr. iur., wird Anwalt mit eigenem Büro.
Seinen Ehrgeiz zeigt er aber auch beim Sport. Mit 18 Jahren gründet er den Handballverein St. Otmar St. Gallen, den er als Spieler, Spielertrainer und Trainer in die höchste Liga und zu mehreren Meisterschaften und Cup-Siegen führt. Furgler glaubt an den «Erziehungswert im wettkampfmässigen Mannschaftssport». Er sieht darin eine Schule fürs Leben. «Wer Talent hat, muss dieses in den Dienst der Gemeinschaft stellen, für eine Mannschaft einsetzen, damit sie stärker wird. Man kann diese Regel sehr gut auf die Familie und auf die Eidgenossenschaft übertragen.» Das Spielfeld ist für ihn zudem Charaktertest für die Politik: «Mehr noch als durch Siege beweist ein Sportler in der Niederlage seine Grösse.»
Prägend für seinen Führungsstil wird auch das Militär. Noch während des Zweiten Weltkriegs absolviert er die Rekrutenschule. Er wird bis in den Rang eines Brigadiers aufsteigen, höher geht es nicht für Milizoffiziere. Und als er 1954, im Alter von 30 Jahren, für die CVP (heute: Die Mitte) in den Nationalrat nachrückt, ist er selbstverständlich bereits verheiratet und Familienvater. In seiner Partei gehört er dem christlichsozialen Flügel an.
Teetrinken mit der Familie: Kurt Furgler mit seiner Ehefrau und den sechs Kindern, wenige Tage vor seiner Wahl in den Bundesrat 1971. Photopress-Archiv / Keystone
Als Nationalrat reicht er nur wenige, dafür gewichtige Vorstösse ein. Er plädiert etwa für die Unterzeichnung der Europäischen Menschenrechtskonvention, für den Uno-Beitritt und eine Annäherung an die Europäische Gemeinschaft. Als Fraktionschef der CVP avanciert er bald zum Strippenzieher im Bundeshaus. Und als die Schweiz 1964 mit der Mirage-Affäre ihre erste Staatskrise seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt, wird er mit der Leitung der parlamentarischen Untersuchung betraut. «Wir erleben eine staatspolitisch bedeutsame Stunde», sagt Furgler – und meint auch: seine Stunde.
Mit 30 Jahren Nationalrat, wenige Jahre später Fraktionschef der CVP: der Parlamentarier Furgler, in einer ;Aufnahme von 1958. Jules Vogt / Photopress-Archiv / Keystone
Die Rolle als Mirage-Inquisitor macht ihn zum Polit-Star, eine Wochenzeitung wählt ihn zum «Schweizer des Jahres». Als 1971 der CVP-Bundesrat Ludwig von Moos zurücktritt, ist der Kronprinz zur Stelle: Seine Fraktion setzt ihn allein auf das Ticket – «die anderen möglichen Kandidaten», so berichtet ein Parteikollege, «standen herum wie arme Irre».
Am 8. Dezember 1971, dem katholischen Feiertag der unbefleckten Empfängnis, wird Kurt Furgler in den Bundesrat gewählt – und humpelt mit Krücken zur Vereidigung, rekonvaleszent von einer Knieoperation.
Der Wille zur Macht
Im Nu macht der St. Galler das Justiz- und Polizeidepartement zum Schlüsseldepartement. An «KuFu», wie man ihn nennt, kommt im Bundesrat keiner vorbei. Aus «juristischer Sicht» beurteilt er die Vorlagen der Kollegen, mischt sich in deren Dossiers ein. Sein Departement trimmt er auf Effizienz. Wer unter ihm arbeitet, muss Leistung zeigen, falls nötig auch nächtens und an den Wochenenden – getreu dem Motto aus Furglers Handballzeit: «Nöd logg lo gwönnt!»
Der Chef selbst zeigt keine Müdigkeit: «Es gibt schon lange Tage, wahrscheinlich mehr Vierzehnstünder als andere.» Durch die Gänge des Bundeshauses geht er nicht, sondern er läuft, den Kopf leicht schräg gestellt, als habe er Gegenwind.
Sein Bundesratskollege Willi Ritschard sagt einmal, nur halb ironisch: «Kurt Furgler würde am liebsten alle sieben Departemente übernehmen.»
Der Wille zur Macht ist unübersehbar. Furgler will Spuren hinterlassen, wie er es nach seiner Wahl versprochen hat: Er wolle «mit der Jugend unseres Landes die Zukunft dieses Staates Schweiz mitgestalten und sie bitten, das Wagnis Schweiz einzugehen». Wer den heutigen Reformstau kennt, reibt sich die Augen über die damalige Geschwindigkeit, mit der Furgler auch komplexe Projekte vorantreibt.
In zehn Jahren als Justizminister bringt er 135 Gesetzesreformen durch: die Revision des Kinderrechts, des Eherechts, des Adoptionsrechts, ein neues Asylrecht, die Neuverteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Kantonen, ein neues Zivilschutzgesetz, ein neues Raumplanungsgesetz, eine Verschärfung des Strafrechts, die internationale Rechtshilfe oder das Gurtenobligatorium für Autofahrer.
Nicht alles gelingt: Sein Versuch, eine Bundessicherheitspolizei zu schaffen, scheitert grandios. Und sein ambitioniertestes Unterfangen, die Totalrevision der Bundesverfassung, die er als «Geschenk» für die 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft 1991 vorsieht, gerät in die Mühlen der Vernehmlassung.
Dafür spielt Furgler eine zentrale Rolle bei der Schaffung des Kantons Jura. Er zeigt dabei eine seiner grossen Stärken: die Bereitschaft zum Dialog, zum Anhören anderer Meinungen. Er trifft etwa den Separatistenführer Roland Béguelin, der von vielen in Bundesbern als Terrorist verteufelt wird. Und mit dem staatskritischen Grossschriftsteller Max Frisch debattiert der belesene Furgler 1978 im Schweizer Fernsehen über die Macht der Politik und die Bedeutung der Kunst in der Gesellschaft.
Keine Scheu vor einer TV-Debatte: Kurt Furgler mustert den Schriftsteller Max Frisch am 4. März 1978 ;vor der Aufzeichnung der Talk-Show «Unter uns gesagt». Photopress-Archiv/Keystone
Gott und der Blitz
Mit seinem Perfektionismus und der Überlegenheit, die er gar nicht zu verstecken versucht, eckt Furgler aber auch an. Als er einmal an einer Konferenz der europäischen Justizminister in geschliffenem Hochdeutsch spricht – um sein Statement dann in perfektem Französisch, Italienisch und Englisch zu wiederholen –, staunen alle und wundern sich zugleich, schliesslich wird ja simultan übersetzt. Der deutsche Amtskollege witzelt: «Der Mann ist zu intelligent, um auch noch klug zu sein.»
Sein unerbittlichster Kritiker ist indes ein St. Galler, der ebenfalls aus dem katholischen Milieu stammt. Der linke Starjournalist Niklaus Meienberg ätzt, es sei Furglers Los, andere in den Schatten zu stellen. Und er wirft ihm vor, ein Opportunist zu sein, «der als Anwalt des kleinen Mannes begonnen hatte und heute auf der Spitze sitzt, wo der liebe Gott und das Kapital einander gute Nacht sagen». Diebisch freut sich Meienberg, als er mit einer Tochter Furglers eine Beziehung eingeht – trotz oder vielmehr wegen des berühmten Vaters.
Der Popularität Furglers in der Bevölkerung tut es keinen Abbruch. Es heisst zwar, er werde mehr respektiert als geliebt. Aber der stets etwas streng und steif wirkende Bundesrat ist volksnaher, als viele denken. Denn nur über beliebte Bundesräte zirkulieren Witze: «Warum springt Kurt Furgler immer aus dem Haus, wenn es donnert und blitzt? Er glaubt, der liebe Gott wolle ihn fotografieren», lautet der wohl bekannteste. Und ein anderer: «Bundesrat Furgler geht mit seinem Enkel spazieren. Sagt der Kleine: ‹Wenn ich gross bin, werde ich auch Bundesrat.› Darauf Kurt Furgler: ‹Wieso? Der Kanton St. Gallen braucht doch nicht zwei.›»
Auch auf internationalem Parkett spielt der weltgewandte St. Galler seine Qualitäten als Staatsmann aus: Sei es bei den Schweiz-Besuchen von Queen Elizabeth II. 1980, François Mitterrand 1983 oder Papst Johannes Paul II. 1984. Weltweit Schlagzeilen macht Furgler als perfekter Conférencier beim Spitzentreffen zwischen Ronald Reagan und Michail Gorbatschow 1985 in Genf: «Es gehört zur historischen Mission der Schweiz, sich für den Frieden in Freiheit einzusetzen», sagt er vor den Medien. Reagan schickt ihm danach ein Dankesschreiben für den «fresh start» auf dem Weg zum Ende des Kalten Kriegs.
Ein Jahr später tritt Kurt Furgler aus dem Bundesrat zurück, wo er seit 1983 als Volkswirtschaftsminister geamtet hat. Zum Abschied sagt er: «Ich kehre heim nach St. Gallen. Ich habe dort meine Familie. Und ich bin froh, dies in guter Verfassung zu tun.»
Der Mann, der die eidgenössische Politik während Jahrzehnten dominiert hat, übernimmt noch einige internationale Mandate, in der Ethikkommission des Olympischen Komitees, beim Europäischen Fussballverband Uefa, bei der Uno oder als Mitglied des Interaction Council, wo er auf andere frühere Staatschefs wie Jimmy Carter und Helmut Schmidt trifft. In die Schweizer Politik mischt er sich nicht mehr öffentlich ein – servir et disparaître. Kurt Furgler stirbt 2008 im Alter von 84 Jahren.
Servir et disparaître: alt Bundesrat Furgler in seinem Büro in St. Gallen 1997. Martin Rütschi / Keystone