Psychopharmaka bei Demenz: zuerst eine Umarmung und dann die Tablette

psychopharmaka bei demenz: zuerst eine umarmung und dann die tablette

Manchmal hilft es, einen dementen Menschen einfach zu streicheln oder ihm eine bekannt Melodie zu summen. Ute Grabowsky / ;Photothek / Imago

Liesel rutscht auf ihrem Stuhl hin und her, schiebt Teller und Tassen durcheinander, hämmert mit der Gabel auf den Tisch. Plötzlich steht sie auf. Sie läuft unruhig im Zimmer auf und ab, packt ihre Tochter am Arm und schimpft mit ihr. Solche Dinge kamen jeden Tag vor.

«Es fiel mir anfangs sehr schwer, sie nicht anzuschreien, weil mich ihr Verhalten so verletzte und wütend machte», sagt Lieselotte Klotz, die ihre Mutter zwölf Jahre zu Hause bis zu deren Tod pflegte. «Ich fühlte mich hilflos und lernte erst mit der Zeit, wie ich ihr am besten helfen und mich schützen konnte: mit Liebe, Humor und radikaler Akzeptanz.»

So wie Liesel ergeht es fast allen Menschen mit Demenz. Fachleute sprechen von BPSD. Das Kürzel steht für Behavioural and Psychological Symptoms of Dementia, das Verhalten betreffende und psychische Symptome der Demenz. Typisch dafür sind Unruhe, aber auch Apathie, Traurigkeit bis zur Depression, Ängste, Stimmungsschwankungen, leichte Reizbarkeit, Halluzinationen oder aggressives und enthemmtes Verhalten.

Gemäss internationalen Leitlinien sollte man solche Krankheitserscheinungen in erster Linie mit nichtmedikamentösen Massnahmen behandeln. Medikamente – insbesondere Antipsychotika – sollten erst dann verabreicht werden, wenn sonst nichts hilft. Oder wenn die Betroffenen sich und andere gefährden könnten.

psychopharmaka bei demenz: zuerst eine umarmung und dann die tablette

Zwei von drei Bewohnern in Schweizer Pflegeheimen mit Anzeichen für eine Demenz und typischen Verhaltensauffälligkeiten bekommen ein Antipsychotikum. Annick Ramp / NZZ

Ob diese Empfehlungen hierzulande eingehalten werden, ist indes fraglich. 2019 und 2020 bekamen zwei von drei Bewohnern in Schweizer Pflegeheimen mit Anzeichen für eine Demenz und typischen Verhaltensauffälligkeiten ein Antipsychotikum.

Seit Jahren ist bekannt, dass Antipsychotika akute Nebenwirkungen haben wie parkinsonähnliche Beschwerden, Schwindel, Angst, Depressionen, Kopfschmerzen, Magen-Darm-Probleme, Inkontinenz und Veränderungen des Stoffwechsels. Langfristig erhöhen sie das Risiko für Schlaganfälle und einen vorzeitigen Tod.

Schritt für Schritt vorgehen

Jüngst haben Forscher aus Manchester die Daten von fast 174 000 Patienten mit Demenz untersucht, von denen jeder fünfte erstmalig ein Antipsychotikum erhalten hatte. Diese liefen eher Gefahr, Lungenentzündungen, akute Nierenschäden, Thrombosen, Herzinfarkte, Knochenbrüche oder Herzversagen zu erleiden.

«Solche Zusammenhänge lassen sich zum Teil durch die Nebenwirkungen erklären», sagt Stefan Klöppel, Direktor der Klinik für Alterspsychiatrie an der Universität Bern. «Wird einem schwindelig, stürzt man eher und bricht sich die Knochen, Antipsychotika-bedingte Herz-Rhythmus-Störungen können zum Tod führen, und das erhöhte Risiko für Schlaganfälle und Herzinfarkte könnte womöglich mit einem veränderten Fettstoffwechsel zusammenhängen.» Weshalb die anderen Krankheiten aufträten, sei noch unklar. «Möglicherweise litten die Patienten schon vorher unter ihnen, und das Antipsychotikum hat sie noch verschlimmert», sagt Klöppel.

In der Entstehung von BPSD wirken verschiedene Faktoren zusammen. So kann die Demenz Bereiche im Hirn schädigen, die für die Verarbeitung und Steuerung von Emotionen und Verhalten zuständig sind. Hinter Unruhe, Apathie oder Aggressivität können auch Schmerzen, Schlafstörungen, ein Harnwegsinfekt oder eine Verstopfung stecken. Selbst Hunger vermag einen Menschen mit Demenz unruhig oder wütend zu machen, ebenso wie unerfüllte Bedürfnisse, etwa nach Wärme und körperlicher Nähe.

Reden pflegende Angehörige aus lauter Erschöpfung unwirsch mit ihren Liebsten oder schreien sie gar an, ist vorstellbar, dass diese aggressiv reagieren oder traurig werden. Die Umgebung spielt ebenfalls eine Rolle: Unruhiges Umherlaufen kann ein Zeichen dafür sein, dass es dem Betroffenen zu laut ist, er sich langweilt oder sich nicht mehr orientieren kann.

Für den Umgang mit Menschen mit BPSD empfehlen die ärztlichen Leitlinien ein schrittweises Vorgehen. Und das bedeutet: erstens die Symptome so genau wie möglich zu erfassen, zweitens auslösende Faktoren zu identifizieren, drittens einen individuellen Behandlungsplan aufzustellen und viertens zu evaluieren, ob die Massnahmen geholfen haben, und diese allenfalls anzupassen.

Falls die Ursachen bekannt sind, sind diese vergleichsweise einfach anzugehen. Eine Zahnsanierung bringt Schmerzen durch einen entzündeten Zahn zum Verschwinden. Eine neue Brille verbessert die Orientierung, eine Umstellung der Ernährung kann Verstopfungen lösen.

Die Angehörigen unterstützen

Anspruchsvoller wird es, wenn die Gründe für die Beschwerden unklar oder vielfältig sind. «Dann muss man ausprobieren, was welchem Patienten nützt», sagt der Psychiater Klöppel. Manchen hilft eine Erinnerungstherapie, in der man mit ihnen Aktivitäten von früher aufleben lässt. Anderen geht es besser mit körperlicher Bewegung, Beschäftigungs-, Musik- oder Tanztherapie, mit Licht- oder Aromatherapie oder Massagen.

Es lohnt sich zudem, pflegende Angehörige zu unterstützen. Sie können insbesondere von Psychoedukation profitieren, also von der Aufklärung über die Symptome von BPSD und was dahintersteckt, von Schulungen zum Erlernen von Bewältigungsstrategien oder der Teilnahme an Selbsthilfegruppen.

Lieselotte Klotz hatte mit der Zeit ihr eigenes Repertoire an Massnahmen gefunden. «Damit gelang es, meine Mutter fast immer gut zu erreichen», erzählt sie. Das gemeinsame Hören ihrer Lieblingsmusik, das Betrachten alter Fotos und das tägliche Kochen wurden zu Ritualen, mit denen die Symptome seltener auftraten. War ihre Mutter wieder einmal extrem aufgeregt und unruhig, hielt sie ihr die Hand, manchmal sanft, manchmal energisch. «Mitunter half es, sie einfach nur in den Arm zu nehmen, sie zu streicheln oder eine bekannte Melodie zu summen.»

psychopharmaka bei demenz: zuerst eine umarmung und dann die tablette

An der Schönheit einer kleinen Blüte kann sich jede und jeder, mit oder ohne Demenz, erfreuen. Karin Hofer / NZZ

Versagen die nichtmedikamentösen Massnahmen, raten die Fachleute zunächst zu Arzneimitteln, die Menschen mit Alzheimer-Demenz standardmässig bekommen, etwa Donepezil oder Memantin. Erst wenn diese nicht ausreichen, sollte der Einsatz von Antipsychotika in Betracht gezogen werden. Dass Antipsychotika wirken, bedeutet, dass sich in Studien Durchschnittswerte auf Symptom-Skalen verbessern, mit denen BPSD gemessen werden – und nicht, dass die Beschwerden verschwinden.

«Doch selbst wenn sich die Symptome auf diese Weise nur ein wenig lindern lassen, kann das schon viel ausmachen», sagt der Psychiater Klöppel. «Der Betroffene ist dann vielleicht immer noch unruhig, aber nicht mehr so aggressiv.» Begonnen wird jeweils mit der kleinsten Dosis, und nach einigen Wochen sollte versucht werden, die Dosis zu reduzieren und allenfalls das Medikament zu stoppen.

Liesel hat keine Antipsychotika in der häuslichen Pflege erhalten. «Und das aus gutem Grund», sagt Lieselotte Klotz. «Sie musste öfter einmal ins Spital, bekam dort häufig Antipsychotika, und als sie entlassen wurde, war sie verwirrt und apathisch. Wir haben die Präparate immer mühevoll ausgeschlichen.»

Wie Detektive eine Lösung suchen

Antipsychotika seien nicht per se schlimm, sagt Florian Riese, Facharzt für pharmazeutische Medizin und Leiter der Forschungsgruppe Lebensqualität bei Demenz an der Universität Zürich. «Es kann Situationen geben, in denen die Medikamente durchaus zu rechtfertigen sind. Zum Beispiel, wenn jemand nicht mehr gepflegt werden kann, weil er extrem aggressiv ist oder weil man den Eindruck hat, er leide zutiefst an seiner unerschöpflichen Unruhe.»

psychopharmaka bei demenz: zuerst eine umarmung und dann die tablette

Demente Menschen brauchen eine Umgebung, die ihnen Geborgenheit und Sicherheit vermittelt. Alvaro Calvo / Getty

Nichtmedikamentöse Massnahmen sollten Vorrang haben, aber was tun, wenn dafür das Personal fehlt oder die Angehörigen überfordert sind? Schon wenige, dafür gezielte Massnahmen könnten helfen, sagt Remo Stücker, Leiter Pflege in den Domizil-Demenzzentren mit den Standorten Bethlehemacker, Elfenau und Wildermettpark in Bern.

Dazu gehöre etwa eine Umgebung, die den Bewohnern Geborgenheit und Sicherheit vermittle. «Klare Aufteilung der Räume, Schilder für die Orientierung, genügend Licht und Nischen mit Sofas, die zum Verweilen einladen.» Wichtig sei auch eine gute Ausbildung der Mitarbeiter – unter anderem, um ihre Kommunikationskompetenzen zu stärken, damit sie spürten, was den Betroffenen fehle.

«Sehen wir, wie ein Mensch mit Demenz unruhig ist oder sich ablehnend verhält, versuchen wir wie Detektive herauszufinden, was dahinterstecken könnte», erzählt Stücker. «Im Gespräch untereinander und mit den Angehörigen finden wir dann meist eine Lösung.» Manchmal sei aber das gesamte Team ratlos, weil nichts helfe. «Das Wichtigste ist dann, den Betroffenen und seine Gefühle ernst zu nehmen und mit ihm die Situation auszuhalten.»

Der Demenzforscher Florian Riese hat noch einen Tipp für pflegende Angehörige: «Wenn Sie merken, dass Sie immer mehr in die Situation hineingezogen und immer aufgeregter werden, gehen Sie in ein anderes Zimmer und lassen Ihren Liebsten einen Moment allein.» Einen Menschen mit Demenz zu pflegen, sei ein Marathon und kein Sprint. «Was Sie jetzt an Kraft verbrauchen – ohne dass es die Situation besser macht – fehlt Ihnen nachher zehnfach.»

OTHER NEWS

6 hrs ago

Die Bibliothek Werner Oechslin in Einsiedeln ist eine grandiose Arche des Wissens und Denkens. Jetzt droht ihr das Ende

6 hrs ago

Die Schweizer sind «klugscheissende Schafhirten» – wie Putins Scharfmacher die Eidgenossen hassen lernte

6 hrs ago

«Die Schweiz gewinnt. Und dann ist alles möglich»

6 hrs ago

Wut, Frust und Trauer im Westen der Ukraine: Die Suche nach neuen Soldaten belastet das Land

6 hrs ago

Lebensretter in der Hosentasche: Wie im Misox eine Frau dank ihrem Handy aus dem Schutt befreit werden konnte

6 hrs ago

Sondersteuer auf Zweitliegenschaften soll die Abschaffung des Eigenmietwerts ermöglichen

6 hrs ago

Umweltsünde oder vertretbar?: Jährlich werden über 20'000 Bäume für Weinkisten gefällt

6 hrs ago

Biden stottert Bedenken über Alter beiseite

6 hrs ago

So kannst du wohnen wie bei Bridgerton

6 hrs ago

Das erwartet dich am eidgenössischen Trachtenfest in Zürich

6 hrs ago

«Länder nehmen ihre Leute nicht zurück? Kann doch nicht sein!»

6 hrs ago

Baumeister fordern Freigabe von zu grossen Wohnungen

6 hrs ago

Die italienische Sportpresse ist vor dem Achtelfinal kritisch

6 hrs ago

Studie: Immer mehr Unternehmer finden keine Nachfolge und erwägen Schließungen

6 hrs ago

Restaurant warnt: Wer Serviette falsch behandelt, zahlt drauf

6 hrs ago

«Ich bin manchmal etwas revolutionär», sagt Annegret Walder. Nun will die Zürcher Tanzleiterin die Jungen für das Trachtenfest begeistern

7 hrs ago

Geheimplan für Sonderfonds: Amherd will 10 Milliarden – auf Pump

8 hrs ago

Fifa-Präsident Infantino verrät, wen er im Achtelfinal unterstützt: «Ich weiss, wem ich bei Schweiz gegen Italien die Daumen drücke»

8 hrs ago

Dank mehr Elektroautos: Neue Autos erstmals unter CO2-Zielwert

8 hrs ago

«Es ist beschämend für die Schweiz» – Frauenhäuser im ganzen Land sind am Limit

8 hrs ago

Trump greift Biden bei Duell für Wirtschaftspolitik an

8 hrs ago

10-Milliarden-Plan für die Armee: Amherd will die Schuldenbremse temporär aushebeln – kann das gutgehen?

9 hrs ago

EU legt Beitrittsprozess von Georgien vorerst auf Eis

9 hrs ago

Ursula von der Leyen für zweite Amtszeit nominiert

9 hrs ago

Bekannt aus «Bodyguard» und «Demolition Man»: Bill Cobbs ist tot

9 hrs ago

Wettervorhersage für den Österreich Grand Prix 2024

10 hrs ago

Heute gibt’s versunkenen Apfelkuchen mit Zimtäpfeln

10 hrs ago

Aus der Pfanne: gebratene Gnocchi mit Sauerkraut und Speck

10 hrs ago

Traurige Gewissheit: Gefundene Kinderleiche ist Arian (6)

11 hrs ago

Scharfe Kritik aus rechtem Lager: Von der Leyen für zweite Amtszeit als EU-Kommissionschefin nominiert

11 hrs ago

«Wir sehen nicht ein, warum sich der Kanton beteiligen soll»: Der Stadtrat will den Eurovision Song Contest nach Zürich holen – der SVP ist das zu teuer

11 hrs ago

Leckere Schinken-Nudeln wie von Oma

12 hrs ago

Foden kehrt mit Vaterfreuden zurück

12 hrs ago

Milliardär öffnet Portemonnaie und Vater interviewt Sohn

12 hrs ago

Erdnussbutter Eine Bewertung Durch Ernährungsexperten

12 hrs ago

Co-Chef Khan mit erstem Beschluss: UBS stellt sich in der globalen Vermögensverwaltung neu auf

12 hrs ago

Starke Zunahme von Gewalt durch Minderjährige

12 hrs ago

Auch Estland und Litauen schliessen Sicherheitsvereinbarung mit Ukraine

13 hrs ago

Stella Assange kämpfte erst als Juristin für Julian Assange, dann hat sie sich in ihn verliebt und sein Image korrigiert

13 hrs ago

Juso schiesst gegen Jans: Eigener Asylminister ist für Jungpartei «unwürdig»