Der perfekte Mord: was die chinesische Kulturrevolution mit dem Deutschland von heute zu tun hat

der perfekte mord: was die chinesische kulturrevolution mit dem deutschland von heute zu tun hat

Das Ziel der chinesischen Kulturrevolution war es, eine neue, ideale Gesellschaft zu schaffen, ohne Unterdrückung, ohne Ungleichheit, ohne Ausbeutung. Bild 1966. Photo 12 / ;Getty

«Es herrschen jetzt die Tugend und der Schrecken, denn die subjektive Tugend, die bloss von der Gesinnung aus regiert, bringt die fürchterlichste Tyrannei mit sich.» Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (1831–37).

Die chinesische Kulturrevolution dauerte ungefähr zehn Jahre, von 1966 bis 1976. Ihr Ziel war es, eine neue, ideale Gesellschaft zu schaffen, ohne Unterdrückung, ohne Ungleichheit, ohne Ausbeutung. Um dieses Ziel zu erreichen, sollten die alten Denkweisen, die alte Kultur, die alten Gewohnheiten, Traditionen und Sitten vollständig ausgemerzt werden.

Für dieses Ziel, die Zerstörung der chinesischen Kultur durch die Chinesen selbst, gab es in der Bevölkerung durchaus eine Massenbasis, zumindest anfangs, das sollte der Verlauf der Revolution zeigen. Dass die Mehrheit der Chinesen diesem Ziel zustimmte, ist unwahrscheinlich. Aber das kann niemand wissen. Letztlich war das, was die Chinesen wollten, ohnehin unwichtig. Es ging ja um alles. Immer wenn es den Mächtigen um alles geht, hat man als Einzelner schlechte Karten.

Mao Zedong, der zeitweise sehr populäre Revolutionsführer, bezeichnete die Kulturrevolution als die «grösste, in der Geschichte der Menschheit noch nie da gewesene Umwälzung der Gesellschaft». Die Formulierung «nie da gewesen» war, wenn wir zum Beispiel an 1789 denken, den Sturm auf die Bastille, sicher ein wenig übertrieben.

Fest steht, dass diese Revolution im Wesentlichen Maos persönliches Ding gewesen ist, sein Projekt. Darin sind die Historiker sich einig: ohne Mao keine Kulturrevolution. Aber was genau wollte er erreichen? Wozu das Ganze? Was war sein «alles»? Warum sollte China unbedingt zerstört werden? Dazu gibt es verschiedene Theorien, aber keine gesicherte Antwort.

Die politische Haltung ist alles

Die Revolution machte Kehrtwendungen, sie drehte Pirouetten, sie erfand immer neue Feinde, sie hatte ihr eigenes Leben, dessen Kontrolle sogar ihrem Initiator Mao phasenweise entglitt. Im Kampf gegen «rechte» und «bürgerliche» Elemente stürzten Maos Anhänger Denkmäler und verhinderten Opernaufführungen, Universitäten und Schulen wurden geschlossen. Nicht Wissenschaft und Bildung sollten auf dem weiteren Weg der Geschichte von Bedeutung sein, sondern allein die politische Haltung, die jemand hat.

Zu den Bildern dieser Zeit, die auch in Europa ikonisch geworden sind, gehören diejenigen von Lehrern, Parteifunktionären oder Professoren, die von einer johlenden, hasserfüllten Menge umringt sind. Sie haben Angst, denn sie wissen, dass manchen von ihnen ein grausamer Tod bevorsteht. Die Ankläger sind jung, die Angeklagten sind meistens älter als sie, wenn auch jünger als Mao (dieser war 1893 geboren). Vor ihrer Brust hängen Pappschilder, auf denen ihr ideologisches Vergehen benannt wird. Die meisten versuchen, sich durch Selbstkritik zu retten, durch Entschuldigungen, durch die Denunziation anderer. Hin und wieder funktioniert das sogar.

Millionen von Toten

Unter den Katastrophen, die Chinas Kommunisten ihrem Volk im Namen von Fortschritt, Gleichheit und Gerechtigkeit zumuteten, ist die Kulturrevolution beileibe nicht die einzige. Auch nicht die grösste. Zwischen 1957 und 1959 setzte Mao die Anti-Rechts-Bewegung in Gang. Damals gab es noch mehrere andere Parteien in China, deren Bewegungsraum allerdings begrenzt war, ein bisschen so wie im heutigen Russland. Maos Ziel war, die Einparteiherrschaft der Kommunisten zu etablieren, indem alle politischen Konkurrenten als «Rechte» gebrandmarkt wurden. Die Zeit des Pro und Contra sollte für immer vorbei sein. Ein bis zwei Millionen Chinesen landeten in «Erziehungshaft», vor allem Gebildete, die sogenannten Intellektuellen. Dort wurden viele von ihnen hingerichtet. Die genaue Zahl der Toten ist unbekannt, wie so oft.

Beim anschliessenden Grossen Sprung nach vorn, bei dem das Ziel «Industrialisierung» hiess, kamen innerhalb weniger Jahre, je nach Schätzung, sogar zwischen 14 und 55 Millionen Chinesen ums Leben. Das Erreichen dieses Ziels galt als alternativlos, Kompromisse waren undenkbar. So löste man die vermutlich grösste Hungersnot der Menschheitsgeschichte aus. Auch dabei war Mao der wichtigste Motor und ein unermüdlicher Ideengeber.

Als Folge der Kulturrevolution starben bis zu 20 Millionen Menschen vor ihrer Zeit, das ist die höchste Schätzung. Es könnten durchaus auch «nur» 10 Millionen gewesen sein. Sie wurden erschlagen, lebendig verbrannt oder lebendig begraben, ihnen wurde die Zunge herausgerissen, oder ihre Augen wurden ohne Betäubung aus den Höhlen geschält. Auch diesmal gab es viele, die einfach verhungerten. Die Regale in den Läden waren leer. Der Staat funktionierte nicht mehr. Die revolutionären Ziele hatten höchste Priorität.

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Unter den Katastrophen, die Chinas Kommunisten ihrem Volk im Namen von Fortschritt, Gleichheit und Gerechtigkeit zumuteten, ist die Kulturrevolution beileibe nicht die einzige. Sovfoto / Getty

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Mit dem «Grossen Sprung», ;bei dem das Ziel «Industrialisierung» hiess, wollte China den Westen überholen. Poster, um 1970. David Pollack / Corbis / Getty

Warum ich Whataboutism betreibe

Neben den monströsen Verbrechen Maos und der chinesischen KP verblassen die Kolonialverbrechen der europäischen Mächte, jedenfalls was die Opferzahlen angeht. Ein Beispiel: Die Europäer verschleppten ungefähr 11 Millionen Afrikaner als Sklaven nach Amerika, beim Transport starben von ihnen etwa 1,5 Millionen. Allein Maos Anti-Rechts-Bewegung dürfte ein ähnliches Massaker gewesen sein.

Man nennt das, was ich gerade getan habe, «Whataboutism». Ein Verbrechen oder auch ein Fehler soll relativiert werden, indem abgelenkt wird, auf andere Verbrechen und andere Fehler. Man sollte das nicht tun. Warum tue ich es trotzdem? Was mich stört, ist die Tatsache, dass über die Verbrechen im Namen der extremen Linken, über die Berge von Leichen, die sie im Namen des Fortschritts produziert hat, nur selten gesprochen wird. Die Kolonialverbrechen dagegen sind, zu Recht, Teil der europäischen Identität geworden, fast in jeder Woche steht etwas über sie in den Zeitungen. Die Botschaften lauten: Nie wieder! Macht wieder gut, was sich gutmachen lässt! Lernt aus euren Fehlern!

Das gute Gewissen ist geblieben

Für die extreme Linke aber gibt es kein «nie wieder». Ihr ist es weitgehend erspart geblieben, sich mit den Verbrechen zu befassen, die von ihr und in ihrem Namen begangen wurden. Sie hat es also geschafft, den perfekten Mord zu begehen, und das millionenfach. Keine Anklage, die unüberhörbar überall nachhallt und jedem durchschnittlich Gebildeten sofort präsent wäre, keine nennenswerte Strafe, auch keine Aufarbeitung, die nennenswert wäre. Die extreme Linke hat folglich immer noch ein gutes Gewissen. Nach all dem.

Das macht den Linksextremismus so gefährlich, diese Ahnungslosigkeit, vielleicht auch Verdrängung, die blutige eigene Geschichte betreffend. Ich halte es für ausgeschlossen, dass Europäer jemals wieder mit Sklaven handeln. Dass es, in anderer Form, aus anderen Motiven, wieder so etwas wie den Grossen Sprung oder die Kulturrevolution geben könnte, halte ich nicht für völlig ausgeschlossen. Der Name «Anti-Rechts-Bewegung» klingt jedenfalls bestürzend modern.

Aber was heisst hier überhaupt «links» und «rechts»? Sozialdemokraten haben zwar manchmal Marx gelesen, waren in ihrer Jugend womöglich kurz Mao-Fans und nennen sich häufig «links», aber mit Mao haben sie heute so wenig zu tun wie eine rechte Konservative mit fragwürdiger Vergangenheit, zum Beispiel Giorgia Meloni, mit Adolf Hitler. Ich verwende diese Begriffe hier nur als Orientierungshilfe, die auf die geistigen Ursprünge der jeweiligen Gewaltherrschaft verweist, nicht als pauschale Schuldzuweisung. Die für den Alltag der Völker wichtigere Unterscheidung als diejenige zwischen «rechts» und «links» ist ja immer die zwischen autoritärer Herrschaft und Regierungen, die für die Grundrechte ihrer Bevölkerung, bei aller Kritik der Regierung am Volk, einen gewissen Respekt aufbringen.

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Anhänger der Kulturrevolution und von Mao Zedong. China, Datum unbekannt. Universal History Archive / Getty

Bündnispartner von Terroristen

Inzwischen gibt es eine immer noch relativ neue Ideologie, die nach 1989 in den linken Milieus der Grossstädte von Europa und Nordamerika erst langsam, dann immer schneller den Marxismus abgelöst hat und die ich «identitär» nenne. Ihr Glaube an den Fortschritt und ihr Internationalismus weisen sie als links aus, ihre Verachtung der westlichen Demokratien macht ihre Vertreter zu Bündnispartnern reaktionärer, nationalistischer, also rechter Terrororganisationen wie der Hamas, für die ein Menschenleben so wertlos ist wie einst für Mao Zedong. Auch für den Antisemitismus gibt es an den deutschen Unis wegen dieser Ideologie wieder eine Basis.

Die neue Ideologie hat verschiedene alte Zutaten aus verschiedenen historischen Quellen zu einem neuen Cocktail gemixt. Sie ist mächtig geworden. Wie alle ihre geistigen Vorgänger will sie am liebsten alles, die totale Kontrolle. Wenn es um alles geht, die Zukunft der Menschheit, braucht man die ganze Macht. Das ist die in sich schlüssige Logik jedes Totalitarismus.

Historische Vergleiche sind immer riskant, auch deshalb, weil nicht jeder den Unterschied zwischen «vergleichen» und «gleichsetzen» kennt. Geschichte wiederholt sich nie, jedenfalls nicht eins zu eins. Die Unterschiede zwischen dem China von 1970 und dem heutigen Deutschland sind ja auch wirklich gewaltig. Niemand muss aus politischen Gründen ums Leben fürchten, es gibt keine Straflager. Eine mit dem charismatischen Mao vergleichbare Figur ist bei den Identitären (andere nennen sie «die Wohlgesinnten») weit und breit nicht zu sehen.

Originalton DDR

Zwei Drittel der Deutschen glauben, dass sie ihre Meinung nicht mehr frei äussern können, hin und wieder darf jemand nicht auftreten, was heisst das schon? Auf einem staatlich geförderten Kongress jubelten kürzlich Hunderte Intellektuelle, als die prominente Rednerin Carolin Emcke sagte: «Es wird uns ständig vorgemacht, es gebe zu allen Fragen gleichermassen wertige, gleichermassen vernünftige, einander widersprechende Positionen. Das ist einfach Bullshit. Wir müssen es abschaffen, ja?» Ein anderer Redner forderte: «Journalistinnen und Journalisten sollen die Leute über das informieren, was sie wissen sollen, und nicht das, was sie wissen wollen.» Das ist Originalton DDR, aber was heisst das schon?

Wer sich mit Geschichte befasst, möchte in der Regel auch etwas über seine Gegenwart erfahren. Wo kommen wir her, wo stehen wir heute, wo kann es enden? Das sind die Fragen. Unsere Zukunft ist unbekannt. Aber wir kennen immerhin das, was in der Vergangenheit die Zukunft war. Wir können im Rückblick Linien erkennen, die von A nach B geführt haben, und das ist immerhin etwas. Es muss nicht so ähnlich kommen. Es kann, von A ausgehend, auch einen Punkt C geben, den wir noch nicht kennen.

Das ist die Hoffnung. Verlassen kann man sich nicht darauf.

Harald Martenstein ist Journalist, Schriftsteller und Kolumnist; er lebt in Berlin.

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