«Landesverräterin» – Pazifisten erleben harte Zeiten und suchen ausgerechnet die Nähe zur SVP
Wie schafft man Frieden? Mit Pazifismus oder Waffen`? Artur Widak / NurPhoto / Getty
Marionna Schlatter fühlt sich manchmal allein. «Wir Grünen sind die Einzigen, die noch nach der Ursache von Kriegen fragen», sagt die Sicherheitspolitikerin. Man könne nicht einfach Milliarden in die Armee «buttern», und gut sei. Man müsse beispielsweise auch fragen, wer Putins Kriegskasse alimentiere. Schlatters Antwort: «Unter anderem der Schweizer Rohstoffhandel und Oligarchengelder auf Schweizer Banken, die bis heute nicht konfisziert sind.»
Im gegenwärtigen politischen Klima ist das Engagement gegen den Aufwuchs der Armee für viele unverständlich. Schlatter wurde in persönlichen Zuschriften auch schon «Landesverräterin» genannt. «Es ist härter geworden, sich für den Frieden einzusetzen», bilanziert die Nationalrätin.
Tatsächlich hat der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine nicht nur die geopolitische Lage verändert – sondern auch das Selbstverständnis der Schweiz. Nach dem Ende des Kalten Kriegs herrschte Zuversicht, die Armee wurde abgerüstet, die Schweiz bezog seit 1991 eine Friedensdividende von 40 Milliarden Franken. Die russische Besetzung der Krim im Jahr 2014 änderte daran wenig. Erst der Einfall Putins in der Ukraine aus dem Süden, Osten und Norden am 24. Februar 2022 hat Europa aufgerüttelt – auch die Schweiz.
Die Sicherheitspolitik hierzulande vollzog einen Paradigmenwechsel. Für die bürgerliche Mehrheit ist wieder klargeworden: Die Armee muss die Schweiz im Kriegsfall verteidigen können. Sie will die Fähigkeitslücken schliessen, die entsprechenden Milliarden sprechen, und das wohl lieber früher als später.
SP mit Schmerzen
Sogar bei den Sozialdemokraten ist neuerdings erstaunlich viel Sympathie für die Armee zu finden. Beispielsweise bei den indirekten Waffenexporten. Eigentlich steht im Parteiprogramm aus dem Jahr 2010: «Die SP setzt sich für die Abschaffung der Armee ein.» Doch zwölf Jahre nach Erscheinen des Papiers distanzieren sich SP-Sicherheitspolitikerinnen davon.
So sagt Priska Seiler Graf, Präsidentin der Sicherheitskommission des Nationalrats: «Die SP hat einen schmerzhaften Prozess durchgemacht.» Sie träume immer noch von einer Welt ohne Armee, doch das sei zurzeit nicht realistisch: «Wenn man im Ernst verlangt, dass die ukrainische Bevölkerung das Recht auf Selbstverteidigung nicht in Anspruch nehmen und sich Russland ergeben soll, finde ich das zynisch.»
Bei der prominentesten pazifistischen Organisation, der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA), beobachtet man diese Entwicklung mit Skepsis, insbesondere die Unterstützung vieler SP-Parlamentarier für den erfolglosen «Kuhhandel», der 15 Milliarden Franken in die Armee und die Entwicklungshilfe investieren wollte. Die Linke müsse sich vorwerfen lassen, «die gewaltige Aufrüstung grundsätzlich zu unterstützen», kommentierte danach die «Wochenzeitung».
Dabei gerät aus dem Blick, dass der Pazifismus innerhalb der Linken immer noch verbreitet ist. Deren Unterstützung des Deals war an die Entwicklungshilfe geknüpft. Seit die bürgerliche Mehrheit die Investitionen in die Armee unter anderem bei der Entwicklungshilfe kompensieren möchte, hat die SP-Führung zu ihrer antimilitaristischen Rhetorik zurückgefunden. Der Co-Präsident Cédric Wermuth bezeichnete die Armee auf dem Kurznachrichtendienst X als «Steuergeldvernichtungs-Perpetuum-mobile».
Besonders deutlich zeigt sich die Macht der Friedensbewegung aber beim Thema der internationalen militärischen Solidarität. Und zwar aufgrund eines Schulterschlusses mit der SVP. Das klingt paradox. Der Pazifismus ist gegen ein starkes Militär, für offene Grenzen und eine grosszügige Entwicklungshilfe. Die SVP steht für das Gegenteil: eine starke Armee und kontrollierte Grenzen.
Doch wenn es um die Nato geht, verbinden sich pazifistische Träume mit neutralitätspolitischen Abschottungswünschen. Gegenwärtig ziehen die Parteien am linken und am rechten Rand eine Mauer zwischen der Schweiz und der Nato hoch. Dies könnte die Verteidigungsfähigkeit unseres Landes schwächen, wenn man dem Verteidigungsdepartement glaubt.
So hat der Nationalrat während der Sommersession einer Motion der Sicherheitspolitischen Kommission zugestimmt. Diese will Schweizer Armeeangehörigen verbieten, an Nato-Übungen gemäss Artikel 5 des Nordatlantikvertrags teilzunehmen. Bei diesen Übungen trainieren die einzelnen Armeen die Verteidigung eines Bündnispartners, der militärisch angegriffen wird.
Frankreich kehrte der Schweiz den Rücken
Bislang beteiligt sich die Schweiz nur an Nato-Operationen im Rahmen der Friedensförderung. Seit 1996 ist sie Teil der Partnerschaft für den Frieden, seit 1999 integraler Bestandteil der Nato-Friedenstruppe Kosovo Force (Kfor). Vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs möchte Verteidigungsministerin Viola Amherd die Zusammenarbeit ausweiten. In einer Antwort auf ein Postulat schrieb der Bundesrat im Januar, die «Intensivierung von Übungen» sei «in jedem Fall» und «über die gesamte Bandbreite der Fähigkeiten» zu fördern.
Im Fokus steht die Verteidigung der Schweiz gegen Angriffe aus der Ferne. Heutige Waffensysteme wie ballistische Lenkwaffen, Marschflugkörper oder Hyperschallwaffen funktionieren über lange Distanzen. Im Falle eines Angriffs wäre die Schweiz für die Abwehr auf die Frühwarnung durch umliegende Länder angewiesen. Dafür müsste sie sich mit Nato-Mitgliedsstaaten absprechen können – im Fall eines Angriffs fällt die Neutralität dahin.
Die Idee Amherds ist nun, dass die Schweizer Luftwaffe, die Offiziere in den Stäben und die Cyberabwehr gemeinsam üben. Das sei im Einklang mit der Neutralität, versicherte Amherd während der nationalrätlichen Debatte. Ein absolutes Verbot aber verunmögliche jegliche Zusammenarbeit mit der Nato. Denn: Es gibt aufgrund der gegenwärtigen geopolitischen Lage fast keine Nato-Übungen mehr, die keine Artikel-5-Bestandteile enthalten. Amherd will daher nur an den Teilen der Übungen teilnehmen, bei denen es nicht um Artikel 5 geht.
Die Freisinnige Jacqueline de Quattro gab ausserdem zu bedenken, dass die Schweiz ein schlechtes Signal an ihren militärischen Partner aussende. Tatsächlich hat Frankreich eine gemeinsame Übung der Bodentruppen abgesagt, die für dieses Jahr geplant gewesen wäre. Die französische Armee sah keinen Nutzen für sich, jetzt trainieren die Schweizer im neutralen Österreich.
Doch die Mehrheit der grossen Kammer schenkte Amherds Neutralitätsbekundungen keinen Glauben. Fabian Molina, Sozialdemokrat, Urheber der Motion und Mitglied der GSoA, argumentierte, es sei schädlich für die Aussen- und Friedenspolitik der Schweiz, wenn die Eidgenossenschaft an Übungen teilnehme, welche den «territorialen Verteidigungskrieg an der Ostgrenze simulieren». Und sein SVP-Kollege Jean-Luc Addor beschwor im «Tages-Anzeiger» bereits das Bild sterbender Schweizer Soldaten in Polen herauf. Die SVP und die Grünen sowie die Mehrheit der SP stimmten für das Verbot, FDP, Mitte und Grünliberale unterlagen. Als Nächstes ist der Ständerat an der Reihe, wo SVP und Linke eine kleinere Hausmacht haben.
Die SVP freut sich ob der pazifistischen Unterstützung. Addor beobachtet gemäss «Tages-Anzeiger» vor allem bei den Grünen mittlerweile «eine klassische Neutralitätskonzeption fast wie bei der SVP». Die beiden Kräfte hatten sich in der Sicherheitskommission auch gegen den Beitritt zur sogenannten European Sky Shield Initiative gestellt, einem europäischen Programm zur Beschaffung von Flugabwehrsystemen – sie unterlagen knapp.
Bevölkerung darf nicht mitreden
Die bei Linken verbreitete Abneigung gegen die Nato und die USA geht zurück bis in den Kalten Krieg, ist aber deutlich zurückhaltender als in Deutschland. Dort behaupten linke Kreise bis heute, die Osterweiterung der Nato habe Putin quasi gezwungen, die Ukraine anzugreifen. In der Schweiz hört man dieses Narrativ fast nur in SVP-Kreisen. Den Pazifisten geht es mehr um die Rolle der Schweiz als Friedensstifterin im Dienste der Menschenrechte und der Demokratie.
Dabei glauben die Friedensbewegten, die Bevölkerung auf ihrer Seite zu haben. Die grüne Nationalrätin Marionna Schlatter ist überzeugt, dass das Volk keinen militärischen Aufwuchs möchte. Sie zitiert dabei den Sicherheitsbericht der ETH aus dem Jahr 2023. 75 Prozent der Befragten gaben dort an, dass die Armee genug oder zu viel Geld ausgebe. Die Resultate sind allerdings widersprüchlich: Im selben Bericht gaben 76 Prozent der Befragten an, dass sie sich eine «vollständig ausgerüstete Armee» wünschten, und 55 Prozent wollen eine Annäherung an die Nato.
Am Ende hat die Bevölkerung bei den Armeeausgaben aussergewöhnlich wenig zu sagen – über das Budget bestimmt das Parlament. Die GSoA hat deswegen in Erwägung gezogen, eine Initiative für ein Rüstungsreferendum zu lancieren, die Idee dann aber wieder verworfen, denn das dauert Jahre.
Stattdessen konzentriert sie sich auf ein altes Anliegen der Friedensbewegung: Die Organisation sammelt Unterschriften für die Atomwaffenverbotsinitiative. Sie will den Bundesrat zwingen, den Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons (TPNW) zu unterschreiben. Er trat 2021 in Kraft und wurde unter anderem auch von Österreich unterzeichnet. Auch diese Initiative wäre ein Schritt weg von der Nato: Die Schweiz hat keine eigenen Atomwaffen, profitiert aber vom Schutzschirm des Verteidigungsbündnisses.
Letztlich geht es um die Frage, wie man Frieden schafft. Und als wie hoch man die Gefahr eines Angriffs auf die Schweiz einschätzt. Marionna Schlatter zitiert gerne den Bundesrat: «Ein direkter bewaffneter Angriff Russlands auf die Schweiz, insbesondere mit Bodentruppen, ist auch in absehbarer Zukunft unwahrscheinlich», schrieb dieser 2022 im Zusatzbericht zum Sicherheitspolitischen Bericht 2021. Für Schlatter ein Zeichen dafür, dass die Bevölkerung unnötig verunsichert wird. Im selben Bericht hält der Bundesrat aber auch warnend fest, dass sich das sicherheitspolitische Umfeld der Schweiz «nachhaltig» verschlechtere und volatil bleibe.