Zwei Autos kommen zufälligerweise auf der Zürcher Europabrücke am Lichtsignal nebeneinander zum Stehen. Dann eskaliert die Situation

zwei autos kommen zufälligerweise auf der zürcher europabrücke am lichtsignal nebeneinander zum stehen. dann eskaliert die situation

Auf der Europabrücke kam es zu Beleidigungen, Provokationen und einer versuchten Tötung mit dem Messer. Christoph Ruckstuhl / NZZ

Es ist ein Fall, der auf den ersten Blick viele gängige Klischees bedient: Ein türkisches Ehepaar in einem Mercedes, die Ehefrau ist Coiffeuse. Ein Iraker als Beifahrer in einem Audi RS7, als Hobby betreibt er Kampfsport. Sie kannten sich zuvor nicht. Nach Beleidigungen soll der Türke versucht haben, den Iraker auf der Europabrücke mit einem Messer zu töten.

«Ich habe keinen 120er-IQ», sagt der Iraker einmal freimütig während des Prozesses über sich selber, nachdem er gefragt worden ist, weshalb er sich das Kennzeichen des anderen Autos nicht gemerkt habe; «es reicht vielleicht für dreistellige Nummern, nicht aber für sechsstellige».

Am 28. März 2023 hielten die beiden Autos zufälligerweise nebeneinander an einem Lichtsignal auf der Europabrücke in Zürich an. Darüber, was danach genau geschehen ist, gibt es unterschiedliche Versionen der Beteiligten. Klar ist: Irgendwann standen mehrere Insassen auf der Strasse.

Einem 35-jährigen Türken wird vorgeworfen, während der Prügelei in einer ersten Phase einen 23-jährigen Iraker gegen den Kopf getreten zu haben. Am Prozess ist mehrfach von einem «Penalty-Kick» die Rede. Als das türkische Ehepaar wieder ins Auto gestiegen war und weiterfahren wollte, stellte sich der Iraker dem Mercedes in den Weg, wonach der Türke ebenfalls wieder ausstieg.

Stichverletzung knapp neben der Wirbelsäule

Während der anschliessenden zweiten Phase der Auseinandersetzung soll der Türke dann mit einem Messer mindestens drei oder vier Mal auf den Iraker eingestochen haben. Dieser musste mit drei Stichverletzungen ins Limmatspital gebracht werden – eine knapp neben der Wirbelsäule am Rücken, eine am Oberarm und eine in der Brust. Die Stiche gingen durch eine dicke Bomberjacke hindurch, die er trug.

Den Fusstritt wertet der Staatsanwalt als versuchte schwere Körperverletzung, die Messerstiche als versuchte Tötung. Er beantragt eine Freiheitsstrafe von 6 Jahren und 8 Monaten sowie 8 Jahre Landesverweis.

Der Beschuldigte lebt erst seit 2021 in der Schweiz, wo er eine Schweizerin mit türkischen Wurzeln heiratete. Er kenne die Frau seit 2006. Sie habe nach der Scheidung von ihrem ersten Ehemann aber nicht in die Türkei kommen wollen. Deshalb sei er in die Schweiz gereist. Sie haben ein gemeinsames Kind, und er ist Stiefvater von zwei Söhnen. Er benötigt im Gericht einen Dolmetscher. Er sass drei Monate in Untersuchungshaft, ist auf freiem Fuss und arbeitet Vollzeit als Lagerist.

Zum Auslöser der Auseinandersetzung erklärt er, der Iraker habe mit der Zunge zwischen Zeige- und Mittelfinger vom Beifahrerfenster aus unanständige Gesten gegenüber seiner Ehefrau gemacht und sie damit beleidigt. Sie hätten sich dann geprügelt. Er habe vom Iraker Faustschläge erhalten und habe ihm Faustschläge ausgeteilt. Den Fusstritt bestreitet er aber vehement.

Ein Messer habe er gar nicht gehabt, nur sein Handy in der Hand gehalten. Auch in der zweiten Phase habe es nur Faustschläge gegeben. Er habe gar keine Verletzungen bei seinem Kontrahenten gesehen. Dieser müsse wohl über ein scharfes Eisenstück am Boden gestolpert sein und sich daran geschnitten haben. Er schildert einschneidende psychische und finanzielle Folgen des Vorfalls für sich selber. Er sass drei Monate in Untersuchungshaft. Seine Ehefrau habe eine Fehlgeburt erlitten.

Blut spritzte, «als ob man einen Wasserfall geöffnet hätte»

Der 23-jährige Iraker wird im Gerichtssaal ebenfalls befragt. Er bestreitet unanständige Gesten und Beleidigungen. Die Lenkerin habe plötzlich herumgeschrien, sei aus dem Auto gestiegen und habe ihm durch das offene Fenster eine «Flättere» verpasst. Er habe nicht gewusst, warum, und sei geschockt gewesen. Er beschreibt die anschliessende Prügelei und den «Penalty-Kick» in Richtung seines Gesichts emotional und ausführlich.

Nachdem er ein Messer in den Händen des Türken gesehen habe, sei er zunächst davongerannt. Er habe sich dann aber vor den Mercedes gestellt, weil er nicht gewollt habe, dass der Türke «abhaut». Nach der folgenden zweiten Phase habe er zunächst seine Schnittverletzungen gar nicht bemerkt. Dann habe das Blut aber gespritzt, «als ob man einen Wasserhahn geöffnet hätte», zitiert sein Anwalt eine Aussage aus der Untersuchung. Er wurde von Kollegen ins Limmatspital gefahren.

Er habe heute immer noch psychische und physische Beschwerden, gehe in die Physio und zu einer Psychiaterin. Wegen des Vorfalls ist er auch heute noch arbeitsunfähig. Sein Rechtsanwalt fordert eine Genugtuung von 50 000 Franken für ihn.

Der Verteidiger des Beschuldigten beantragt eine Bestrafung nur wegen einfacher Körperverletzung mit einer bedingten Geldstrafe von 90 Tagessätzen à 50 Franken. Eine gewalttätige Konfrontation habe stattgefunden. Es bleibe aber unbekannt, was für ein Gegenstand die Verletzungen verursacht habe. Die Ausführungen des Irakers bezeichnet er als «lebensfremde erfundene Lügengeschichten».

Verhaftung im Gerichtssaal

Vor der Urteilseröffnung betreten plötzlich uniformierte Polizisten den Saal. Das Bezirksgericht übertrifft den Antrag des Staatsanwalts sogar noch deutlich. Der 35-Jährige wird zu einer Freiheitsstrafe von 8 Jahren und 9 Monaten wegen versuchter vorsätzlicher Tötung sowie 10 Jahren Landesverweis verurteilt. 92 Tage sind bereits durch Untersuchungshaft abgesessen. Auch den versuchten «Penalty-Kick» bestätigen die Richter, qualifizieren ihn aber nur als versuchte einfache Körperverletzung.

Der Iraker erhält 9000 Franken Genugtuung zugesprochen. Die Richterinnen und Richter werten seine Aussagen als äusserst glaubhaft. Die Schnittverletzungen würden seine Version bestätigen. Das Gericht gehe zwar davon aus, dass tatsächlich die angesprochenen Beleidigungen der Anlass für die Auseinandersetzung gewesen seien, diese rechtfertigten aber keinen solchen Gewaltexzess. Bezüglich Landesverweis liege kein Härtefall vor.

Gleich nach dem Urteilsspruch führt das Gericht eine Anhörung und eine Beratung darüber durch, ob der Beschuldigte in Sicherheitshaft versetzt wird oder Ersatzmassnahmen ausreichen. Das Gericht ordnet die Sicherheitshaft wegen Fluchtgefahr an. Der 35-jährige Türke wird noch im Gerichtssaal verhaftet.

Urteil DG230188 vom 18. 6. 2024, noch nicht rechtskräftig.

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