«Sonderklassen für verhaltens­auffällige Kinder bräuchten ein Vielfaches an Ressourcen»

Lehrpersonen klagen über Kinder, die im Unterricht stören. Wie geht man mit ihnen um? Gehören sie in eine Sonderklasse? Antworten von Dennis Hövel von der Hochschule für Heilpädagogik.

Lehrpersonen klagen über Kinder, die im Unterricht stören. Wie geht man mit ihnen um? Gehören sie in eine Sonderklasse? Antworten von Dennis Hövel von der Hochschule für Heilpädagogik.

«sonderklassen für verhaltens­auffällige kinder bräuchten ein vielfaches an ressourcen»

«Wichtig ist, den Unterschied zwischen Gefühl und Verhalten zu thematisieren», sagt Professor Dennis Hövel von der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich.

Die integrative Schule steht in der Kritik. «Integrativ» heisst «einschliessend», das bedeutet: Die Schule nimmt alle Kinder auf. Während Schülerinnen und Schüler mit einer Behinderung kaum Probleme mit der Integration haben, bereiten verhaltensauffällige Kinder den Schulen zunehmend Mühe. Es geht vor allem um Kinder, die sich nicht konzentrieren können, schwatzen, herumlaufen, sich prügeln und kein angemessenes Sozialverhalten zeigen. Was ist der beste Umgang mit ihnen? Und brauchen sie eine separate Beschulung ausserhalb der Regelklasse? Experte Dennis Hövel gibt Antworten.

Herr Hövel, Lehrpersonen klagen immer wieder über verhaltensauffällige Schülerinnen und Schüler. Die FDP fordert nun, diese Kinder separat zu beschulen. Eine gute Idee?

Wie soll man das machen? Etwa 15 bis 20 Prozent der Kinder sind im klinischen Sinn verhaltensauffällig. Diese Zahl umfasst Kinder mit zum Beispiel Angststörungen, Depressionen, ADHS und Aggressionen. Wir hatten zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte – weder in der Schweiz noch in irgendeinem anderen Land – eine Sonderschulquote oder Separationsquote von 15 bis 20 Prozent aller Schülerinnen und Schüler. Manche Kantone haben bereits bei 2 Prozent für den «Bereich Verhalten» arge Budgetprobleme.

Das heisst, ökonomische Gründe sprechen gegen eine Separierung?

Würden wir alle verhaltensauffälligen Kinder separat beschulen, hätte das etwa eine Verfünffachung der Ressourcen zur Folge. Das halte ich angesichts des Fachkräftemangels nicht für realistisch und auch nicht zielführend.

Die FDP moniert allerdings, dass die integrative Schule hohe Kosten verursacht, nur schon wegen der vielen Klassenassistenzen, Heilpädagoginnen, Lehrpersonen.

Es stimmt, zu viele Fachpersonen im Klassenzimmer können störend sein. Dieses Problem müssen wir anerkennen, doch eine separative Beschulung für Verhaltensauffällige würde noch mehr Fachpersonen nötig machen.

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Anders gesagt: Je mehr man die Kinder auf unterschiedliche Einheiten aufteilt, desto mehr Fachpersonen braucht man. Das kann nicht die Lösung sein.

Abgesehen von ökonomischen Argumenten: Kann es aus pädagogischer Sicht den verhaltensauffälligen Schülern sogar besser gehen, wenn sie unter sich sind?

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Und den anderen auch, wenn die Verhaltensauffälligen nicht so viel Aufmerksamkeit absorbieren?

Studienbefunde liefern hierzu hilfreiche Antworten. Hinsichtlich der Kinder mit auffälligem Verhalten zeigt etwa die Studie von Pretis und Dimova aus dem Jahr 2016, dass der soziale Kontakt zu unauffälligen Gleichaltrigen eine der wichtigsten Ressourcen für diese Kinder darstellt. In Bezug auf «die anderen» zeigt eine

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Meta-Analyse aus dem Jahr 2017

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, dass Schüler und Schülerinnen ohne sonderpädagogischen Förderbedarf ebenfalls von integrativer Bildung profitieren. In die Studie wurden 47 Primärstudien eingeschlossen, mit knapp fünf Millionen Schülerinnen und Schülern. Drei der Studien stammen aus der Schweiz.

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Die Studie von Balestra aus St. Gallen von 2022

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gibt einen Hinweis darauf, dass das Lernen aller Schülerinnen und Schüler negativ beeinflusst wird, wenn mehr als 25 Prozent einer Klasse auffälliges Verhalten zeigen.

Was machen wir also mit den verhaltensauffälligen Kindern?

Ein relevantes Problem ist die Klassenzusammensetzung. Wir nennen das den Kompositionseffekt. Je gemischter eine Klasse ist, desto weniger schwierig ist sie. Gemischt im Sinne von: Kinder mit unterschiedlichen sozioökonomischen Hintergründen. Häufiger kommt es in Klassen aus Quartieren, wo viele Kinder aus sozial und ökonomisch schwachen Familien kommen, zu Problemen.

Je heterogener eine Klasse ist, desto weniger Probleme gibt es mit verhaltensauffälligen Kindern? Ist es nicht umgekehrt?

Eine Klasse mit einem oder zwei verhaltensauffälligen Kindern läuft selten aus dem Ruder. Aber mehrere Kinder mit einer Verhaltensauffälligkeit in derselben Klasse sind häufiger eine Belastung für die Lehrpersonen und auch für die Gruppe insgesamt.

Das heisst, man muss die verhaltensauffälligen Kinder einfach gut verteilen, damit nicht alle auf einmal in der gleichen Klasse sind?

Verkürzt gesagt: Ja. Nun wissen wir aber nicht von vornherein, welches Kind verhaltensauffällig ist, um es dann entsprechend zu platzieren. Deshalb sind unter anderem

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Faktoren wie soziale und sprachliche Benachteiligung

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wichtig bei der Klassenzuteilung. Gleichzeitig gilt: Nicht jedes Kind mit niedrigem sozioökonomischem Status zeigt eine Auffälligkeit. Nicht jedes Kind mit hohem sozioökonomischem Status zeigt keine Auffälligkeit.

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Eine regelmässige systematische Analyse des Verhaltens, um Über- oder Unterschätzungen zu verringern, wäre ein weiterer wichtiger Baustein.

Eltern würden bestimmt protestieren, wenn ihr Kind beispielsweise nicht in die Schule kommt, die ihrem Wohnort am nächsten ist.

Die Stadt Uster hat so ein Projekt umgesetzt und die Klassenzusammensetzung nicht mehr über Wohnortnähe geregelt. Der Schulweg war dann für manche ein paar Minuten länger, dafür waren die Klassen gemischter zusammengesetzt. Uster war erfolgreich damit. Ausserdem muss man die Zuteilung nicht immer über Schulhäuser hinweg machen, an manchen Stellen ist auch die Lösung möglich, dass man die Zuteilung innerhalb derselben Schule betrachtet und anpasst. Das sind durchaus Ansätze, die man sofort umsetzen könnte.

Sie sagen, 15 bis 20 Prozent der Kinder sind im klinischen Sinn verhaltensauffällig. Warum sind es so viele?

In den vorliegenden Studien gibt es keine Anzeichen dafür, dass sich diese Quote in den letzten 70 Jahren verändert hat.

Sind also die Klagen lauter geworden?

Psychische Auffälligkeiten werden in der Gesamtbevölkerung zunehmend wahrgenommen und thematisiert. Es wird gleichzeitig auch mehr Unterstützung angeboten, so haben zum Beispiel die Inanspruchnahme und die Plätze für ambulante Therapien deutlich zugenommen. Die Sensitivität der Gesellschaft für psychologische Themen hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert, das zeigt sich auch in den Schulen.

Was können Eltern tun, wenn sie verhaltensauffällige Kinder haben?

Wichtig ist, den Unterschied zwischen Gefühl und Verhalten zu thematisieren. Eltern sollten mit ihren Kindern über Gefühle sprechen. Wenn ein Jugendlicher wütend ist, dann ist das Gefühl in Ordnung. Aber wenn er einen Stuhl herumschmeisst, dann ist dieses Verhalten nicht okay. Wenn zu Hause diese Themen auf eine unterstützende Art besprochen werden, wirkt sich das günstig auf die Entwicklung des Kindes aus.

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Wichtig ist der gemeinsame Dialog.

Allerdings haben verhaltensauffällige Kinder zu Hause meistens nicht viel Unterstützung. Wie viel Verantwortung tragen die Eltern?

Die Ursachen für Verhaltensstörungen sind biopsychosozial. Das heisst: Es gibt Faktoren, die im Kind selbst liegen, aber auch risikobehaftete Einflüsse aus der Umwelt – der Familie, dem Quartier, der Schule. Die Bedeutung der Risiko- und Schutzfaktoren ändert sich über die Lebensspanne. Während für Kleinkinder die Eltern von zentraler Bedeutung sind, haben in der mittleren Kindheit und im Jugendalter Einflussfaktoren in der Schule und der Gleichaltrigengruppe stärkere Bedeutung.

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