Besser als sein Ruf: weshalb Italiens Team auch an dieser EM zu allem fähig ist
Siegesgewiss: Die Fans ;der Squadra Azzurra sind zuversichtlich, dass ihr Team nach dem Titelgewinn an der letzten EM auch heuer in Deutschland triumphiert. Lasse Lagoni / Imago
Berlin, Berlin, die Italiener fahren nach Berlin.
Im italienischen Fussball-Team vermischen sich gerade ein paar Ereignisse zu einer Geschichte, aus der möglicherweise eine Kraft entsteht, die im Rückblick romantisiert werden könnte. Im EM-Achtelfinal vom Samstag treffen die bisher enttäuschenden Italiener in Berlin auf die Schweiz.
Nach dem euphorisch bejubelten Goal in der letzten Minute der Nachspielzeit gegen Kroatien zum 1:1 durch den weitgehend unbekannten Ergänzungsspieler Mattia Zaccagni schöpfen die Italiener jedenfalls die Zuversicht, es wie vor 18 Jahren zu machen. Damals, an der WM 2006, gewann die Squadra Azzurra den Final gegen Frankreich im Elfmeterschiessen – in Berlin, dem Finalort auch dieser EM. Es war eine dieser Notti Magiche 2006, als Italien im Halbfinal auch gleich Deutschlands Sommermärchen beendet hatte.
Feiern den Gruppensieg nach dem Remis gegen Kroatien: die italienischen Fussballer. Wunderl / Imago
Die Parallelen zu 2006
Im italienischen Team von 2006 und dem von 2024 gibt es durchaus Parallelen: Auch jetzt gilt Italien nach der Vorrunde keineswegs als Favorit, nicht einmal gegen die Schweiz. An der Weltmeisterschaft setzte sich Italien damals glückhaft und dank einem Penaltygeschenk im Achtelfinal 1:0 gegen Australien durch – Francesco Totti verwandelte den Elfmeter in der fünften Minute der Nachspielzeit nach einer Schwalbe von Fabio Grosso. Heute, in Zeiten des VAR, gibt es solche Elfmeter nicht mehr.
Ein Blick auf die Italiener zeigt: So schwach, wie viele Beobachter und Medien es derzeit einschätzen, ist das Nationalteam keinesfalls. Der Trainer Luciano Spalletti hat die Mannschaft vitalisiert, er möchte mutigen Angriffsfussball bieten, hat an dieser EM aber auch bewiesen, dass er, falls nötig, auch den guten alten italienischen Pragmatismus anwendet.
Tor: der vielleicht Weltbeste des Fachs
Italien hatte in seiner Geschichte viele erstklassige Torhüter: Dino Zoff, Walter Zenga, Gianluigi Buffon – und seit ein paar Jahren Gianluigi Donnarumma. 65 Länderspiele hat der 25-Jährige von Paris Saint-Germain bereits absolviert; er war der Held an der letzten EM vor drei Jahren, als er im Elfmeterschiessen des Finals gegen England zwei Schüsse parierte. An dieser EM präsentiert sich Donnarumma stark, sicher und souverän. Der 196 Zentimeter grosse Athlet gilt trotz Schwächen bei der Ballbehandlung als einer der weltbesten Vertreter des Fachs.
Hält gegen Kroatien den Penalty von Luka Modric: der Goalie Gianluigi Donnarumma (links). Lee Smith / Reuters
Abwehr: Bastoni muss auf seinen Partner Calafiori verzichten
Italien hatte viele herausragende Verteidiger: Franco Baresi, Paolo Maldini, Alessandro Nesta, Fabio Cannavaro, zuletzt Leonardo Bonucci und Giorgio Chiellini – und der nächste könnte Alessandro Bastoni sein. 25 Jahre alt ist der hochgewachsene, kräftige, spielerisch begabte Innenverteidiger von Inter Mailand. Er ist der Chef in der italienischen Defensive und sehr gefährlich bei Standardsituationen: Kopftor gegen Albanien beim 2:1 zum Auftakt, zwei Topchancen mit dem Kopf beim 1:1 gegen Kroatien.
Bastoni hat sich in der Dreierkette von Inter Mailand zu einem der international besten Verteidiger entwickelt. Nun ist er mit ein paar Jahren Verspätung dabei, auch im Nationalteam das Versprechen einzulösen, der nächste stilprägende italienische Verteidiger zu sein.
Mg Milano 19/05/2024 - campionato di calcio serie A / Inter-Lazio / foto Matteo Gribaudi/Image nella foto: Alessandro Bastoni PUBLICATIONxNOTxINxITA Matteo Gribaudi/ / Imago
Gegen die Schweiz wird an Bastonis Seite jedoch nicht der Aufsteiger Riccardo Calafiori von Bologna spielen. Der frühere Basel-Spieler ist gegen die Schweiz gesperrt. Das ist für die Italiener ein Nachteil. Denn der 22-Jährige überzeugte an dieser EM bisher mit seiner smarten Spielweise, die zuweilen an den magistralen Nesta erinnert. Der ZDF-Experte Christoph Kramer sagte bereits: «Calafiori ist der beste Spieler dieser EM.»
Mittelfeld: Der Hoffnungsträger Barella will zu viel
Italien hatte viele ausserordentliche Mittelfeldspieler: Gianni Rivera, Sandro Mazzola, Andrea Pirlo, Marco Verratti. Und heute? Jorginho ist älter und auch in seinen Aktionen langsamer geworden, aber immer noch der Stratege im Aufbau. Einen Penalty wird er gegen die Schweiz vermutlich nicht treten, nachdem er im Herbst 2022 in der WM-Qualifikation zweimal gegen den Schweizer Goalie Yann Sommer scheiterte – und auch im EM-Final 2021 verschossen hatte.
Wirkt nach dem Meistertitel mit Inter Mailand müde: der Mittelfeldspieler Nicolò Barella ;(Bildmitte). Alessandro Garofalo / Reuters
Der beste italienische Spieler im Mittelfeldzentrum ist Nicolò Barella, der an guten Tagen Weltklasse ist, weil er das Tempo diktiert, sich schlau in den Zwischenräumen bewegt, technisch überragend und laufstark ist und einen guten Schuss hat. So erzielte Barella auch gegen Albanien das Siegtor. Allerdings wirkte er nach einer intensiven Saison zuletzt ein wenig müde. Und: Er trägt eine enorme Verantwortung, will zuweilen zu viel.
Beim Meister Inter ist Barella die Identifikationsfigur schlechthin, kurz vor der EM verlängerte er den Vertrag vorzeitig bis 2029 – trotz dem Interesse anderer Topklubs wie Manchester City, dessen Trainer Josep Guardiola ein Bewunderer von Barellas Fähigkeiten ist.
Sturm: Wann erwacht Chiesa?
Italien hatte viele berauschende Stürmer: Paulo Rossi, Roberto Baggio, Francesco Totti, Alessandro Del Piero. Seit Jahren fehlt allerdings ein Angreifer von internationalem Format – und ein Goalgetter sowieso. Der kräftige Gianluca Scamacca enttäuschte an der EM bisher, auch Giacomo Raspadori und Mateo Retegui blieben gegen Kroatien ungefährlich.
Auf welcher Position er am besten ist, scheint immer noch unklar: der Juventus-Spieler Federico Chiesa (links). Thilo Schmuelgen / Reuters
Der Offensivspieler mit dem grössten Potenzial ist nach wie vor Federico Chiesa, einer der EM-Helden 2021. Allerdings ist noch immer nicht klar definiert, auf welcher Position der dynamische Chiesa am stärksten ist: am Flügel, als zweiter Stürmer, hinter einer Spitze? Nach einigen Verletzungen ist Chiesa zudem nicht in Bestform, er tritt in Deutschland bisher seltsam blass auf, sein unbändiger Wille zeichnet ihn dennoch aus.
Italiens Hoffnung auf unerwartete Torschützen
Ein Sinnbild für die bisher nicht überzeugenden italienischen EM-Auftritte mit dem 0:1 gegen Spanien als Tiefpunkt ist Davide Frattesi. Bei Inter Mailand keine Stammkraft nach einer durchaus starken Saison, könnte der Mittelfeldspieler in Abwesenheit von Nicolò Zaniolo (verletzt) und Sandro Tonali (gesperrt wegen Wetten) mit seiner Torgefahr und Zielstrebigkeit ein Leader im Mittelfeld sein. Doch Frattesi blieb bis anhin glücklos, gegen Kroatien verschuldete er zuletzt sogar einen Handspenalty. Die Kritik an ihm ist in der Heimat ebenso gross, wie vor dem Turnier die Hoffnungen in ihn waren.
Auf dem Weg zu Titelgewinnen an der WM 2006 und an der EM 2021 tauchten regelmässig unerwartete italienische Torschützen auf. Vor 18 Jahren etwa die Verteidiger Gianluca Zambrotta (im Viertelfinal gegen die Ukraine), Fabio Grosso (im Halbfinal gegen Deutschland) und Marco Materazzi (im Final gegen Frankreich). Und vor drei Jahren: Matteo Pessina im Achtelfinal gegen Österreich und der Abwehrspieler Bonucci im Final gegen England.
2021 rettete sich Italien im Achtelfinal gegen Österreich übrigens nach einer mittelmässigen Leistung zum knappen Sieg in der Verlängerung.