Estlands «Frontfrau» steht kurz davor, Chef­diplomatin der EU zu werden

Premierministerin Kaja Kallas ist die Favoritin für das Amt der Aussenbeauftragten. Sie wirbt für Härte gegen Russland, bei Kollegen und Medien ist sie beliebt. Zu Hause weniger.

estlands «frontfrau» steht kurz davor, chef­diplomatin der eu zu werden

48 Jahre alt und kurz vor dem Abflug nach Brüssel: Die estnische Ministerpräsidenten Kaja Kallas trifft auf dem Bürgenstock ein, wo sie am Gipfel zum Frieden in der Ukraine teilnimmt.

Eine gute Politikerin weiss, wann sie schweigen muss. Eigentlich nutzt die estnische Premierministerin Kaja Kallas vor allen EU-Gipfeln der Staats- und Regierungschefs die Chance, in die Fernsehkameras und Aufnahmegeräte zu sprechen, um ihre Position deutlich zu machen. Schnörkellos und in geschliffenem Englisch fordert sie meist ein härteres Vorgehen gegen Wladimir Putins Russland und mehr Waffen für die angegriffene Ukraine. Doch am Montagnachmittag wählt die 48-Jährige einen anderen Weg: von der Limousine aus direkt in die Sitzungssäle des Brüsseler Europa-Gebäudes, wo es auch um ihre Zukunft geht.

Obwohl sich der deutsche Kanzler Olaf Scholz, der Franzose Emmanuel Macron, die Italienerin Giorgia Meloni und die anderen 24 Staats- und Regierungschefs bei ihrem informellen Gipfel (zum Abendessen gab es Seelachs mit Baby-Artischocken und mediterranem Gemüse) nicht auf das Personalpaket einigen konnten: Die Liberale Kallas gilt weiter als Favoritin für das Amt der EU-Aussenbeauftragten.

In Estland regiert sie seit 2021 – als erste Frau

Für Kaja Kallas spricht nicht nur, dass bei der Vergabe der EU-Topjobs Politiker aus Ost- und Mitteleuropa bisher oft übergangen wurden. Gerade in Brüssel ist sie bestens bekannt und vernetzt. 2014 wurde die Juristin ins Europaparlament gewählt, bevor sie als Chefin der liberalen Reformpartei nach Estland zurückkehrte. Anfang 2021 wurde sie als erste Frau Premierministerin.

Bereits vor dem 24. Februar 2022 warb sie dafür, die Ukraine umfassend gegen den Angreifer Russland mit Waffen zu unterstützen. Weil sie unentwegt fordert, Moskau schärfer zu sanktionieren, nennen internationale Medien sie gern «Eiserne Lady» oder «Frontfrau». Die Nato-Verbündeten in Europa mahnt sie beharrlich, mehr in die eigenen Armeen zu stecken.

Oft hat sie seither berichtet, wie es sich als kleines Land mit nur 1,3 Millionen Einwohnern an der Seite des riesigen Russlands anfühlt. Oft verknüpft Kallas solche Auftritte mit ihrer Biografie: Ihre Mutter war sechs Monate alt, als die Familie nach Sibirien deportiert wurde. Nur weil ein freundlicher Russe ihrer Grossmutter Milch gab, überlebte das Baby die Fahrt in einem Viehwagen. Erst zehn Jahre später, 1959, konnte die Familie nach Estland zurückkehren, wo Kaja 1977 geboren wurde. Nach der Unabhängigkeit 1991 wurde ihr Vater Siim Aussen- sowie Finanzminister und führte als Premier die Verhandlungen, damit Estland 2004 der EU und der Nato beitreten konnte – und wurde anschliessend EU-Kommissar.

In ihrer Heimat hat Kallas an Popularität verloren

Insofern kennt sich Kaja Kallas bestens aus mit europäischer Politik und weiss, dass das Amt der Hohen Repräsentantin für Aussen- und Sicherheitspolitik trotz des pompösen Titels wenig glamourös ist. Gewiss: Traditionell ist die Aussenbeauftragte auch Vizepräsidentin der EU-Kommission; zudem sind regelmässige Teilnahmen an den EU-Gipfeln garantiert. Dass Kallas trotzdem bereit zu sein scheint, sich aus der Riege der Staats- und Regierungschefs zu verabschieden, liegt auch an der innenpolitischen Lage in Estland.

In ihrer Heimat hat sie nämlich stark an Popularität eingebüsst. Im Mai zeigten sich laut dem Meinungsforschungsinstitut Norstat nur 23 Prozent der Befragten zufrieden mit ihrer Arbeit. Bei der Europawahl Anfang Juni landete die Reformpartei mit 17,9 Prozent abgeschlagen auf Platz drei – 14 Monate zuvor hatte Kallas’ Partei die Parlamentswahl noch mit 31 Prozent klar gewonnen.

Europäische Karriere zu sehr im Fokus?

In einem Brief an Kallas und die anderen Parteivorsitzenden ihrer Koalition schrieb Oppositionsführer Urmas Reinsalu dem Fachdienst «Baltic News Service» zufolge, die Premierministerin würde sich vor allem «um ihre persönlichen Karrierepläne in Europa» kümmern, anstatt das Land zu führen.

Wie nahezu alle europäischen Regierungschefs hat Kallas mit den Folgen des Krieges wie gestiegene Energie- und Lebensmittelpreise zu tun. Dass ihre Drei-Parteien-Koalition die Ausgaben für Verteidigung erhöht, wird grundsätzlich akzeptiert – doch die in anderen Bereichen nötigen Sparmassnahmen sind äusserst unpopulär.

Zuletzt sorgten die Rücktritte des höchsten Beamten im Verteidigungsministerium sowie des Armeechefs für Unruhe. Beide begründeten dies mit dem Unwillen der Regierung, weitere 1,6 Milliarden Euro zu investieren, um die estnischen Munitionslager weit genug aufzufüllen, dass sich «potenzielle Angreifer» abwehren liessen.

Kontroverse um ihren Ehemann

In ihrer Heimat leidet Kallas’ Ruf weiterhin unter einem Skandal aus dem Sommer 2023. Damals wurde bekannt, dass ihr Ehemann an einem Logistikunternehmen beteiligt war, das nach dem 24. Februar 2022 weiter Güter nach Russland fuhr. Gesetzeswidrig war dies nicht, wie Kallas wütend betonte: Sie habe zudem nichts von den Geschäften ihres Mannes gewusst und sei Opfer einer «Hexenjagd». Da sie ihrem Mann 350’000 Euro für dessen Firma geliehen hat, verstärkte sich aber der Eindruck, Kallas sei zu elitär, um die Nöte der normalen Menschen Estlands zu verstehen. Deren jährliches Durchschnittseinkommen beträgt mit etwa 25’000 Euro ungefähr die Hälfte des deutschen.

An ihrer Eignung für den Posten der EU-Chefdiplomatin gibt es trotzdem keine ernsthaften Zweifel, auch wenn ihre moskaukritischen Töne die Regierungen in Ungarn und der Slowakei wohl etwas stören dürften. Auf Fragen nach ihren persönlichen Karriereplänen antwortet sie seit Monaten unverbindlich. Typisch war ihr Auftritt in einem Gespräch mit internationalen Medien am Rande der Lennart-Meri-Sicherheitskonferenz in Tallinn. Es sei eine «grosse Ehre», dass jemand aus einem so kleinen Land als Option genannt werde. Es folgte ein Satz, der den Frust über die innenpolitische Lage nicht verbarg: «Mich mögen vor allem die Journalisten, also die ausserhalb Estlands.»

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