Viele, aber nicht alle Unterschriften und noch keinen Ort für eine Folgekonferenz: Das war der Bürgenstock-Gipfel
Die Schweiz und die Ukraine zeigten sich mit dem Ergebnis der Bürgenstock-Konferenz zufrieden. Michael Buholzer / Keystone
92 Länder aus aller Welt und 8 internationale Organisationen hatten sich angekündigt. 101 Delegationen, eine Konferenz von dieser Grösse hatte die Schweiz bis zu diesem Wochenende noch nie organisiert. Das «Familienfoto» am Samstagabend mit dem breiten und teilweise hochkarätig besetzten Teilnehmerfeld war für die Organisatoren ein erster Erfolg. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski, auf dessen Initiative die Schweiz das Treffen organisiert hatte, bezeichnete die Zusammenkunft als «historisch», auch wenn der Gipfel erst den Anfang eines langwierigen Prozesses markiere.
Den Bildern vom Samstag sollten am Sonntag, so die Hoffnung, denn auch substanzielle Ergebnisse folgen: eine gemeinsame Abschlusserklärung, die idealerweise alle anwesenden Vertreter unterzeichnen würden. Am frühen Nachmittag war schliesslich klar, dass das abschliessende Bürgenstock-Communiqué von einem Grossteil, aber nicht allen Delegationen mitgetragen werden würde. 80 Staaten und Vertreter von 4 internationalen Organisationen setzten ihre Unterschrift unter das Dokument.
Einstehen für das Völkerrecht
Die Erklärung beginnt mit einer Erinnerung an die Charta der Vereinten Nationen. «Wir bekräftigen unser Bekenntnis zum Verzicht auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt gegen die territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit eines Staates», heisst es in dem Text. Die Grundsätze der Souveränität, Unabhängigkeit und territorialen Integrität aller Staaten innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen müssten geachtet werden. Das schliesse die Ukraine ein.
Ukrainische Vertreter betonten an der Konferenz immer wieder, dass das Land keinerlei Kompromisse eingehen werde, die an diesen Grundpfeilern rütteln würden. Auch die Teilnehmer der Konferenz wurden nicht müde, zu bekräftigen, dass sie für das Völkerrecht einstünden.
Fern dieser grossen Linien forderten die Unterzeichner in der Erklärung auch, dass das von russischen Truppen besetzte Atomkraftwerk Saporischja geschützt wird, und sie verurteilten jede Androhung des Einsatzes von Atomwaffen. Darüber hinaus setzten sich die 80 Staaten für ungehinderte Getreideexporte aus der Ukraine ein, die insbesondere für arme Länder in Afrika von grosser Bedeutung sind. Die 13 afrikanischen Vertreter auf dem Bürgenstock schlossen sich der Abschlusserklärung denn auch vollständig an.
Die freie, uneingeschränkte und sichere Handelsschifffahrt sowie der Zugang zu den Häfen im Schwarzen und im Asowschen Meer seien für die weltweite Ernährungssicherheit von entscheidender Bedeutung, heisst es dazu in der Gipfelerklärung. Angriffe auf Handelsschiffe in Häfen und entlang der gesamten Route sowie auf zivile Häfen und zivile Hafeninfrastruktur seien nicht hinnehmbar.
Die Unterzeichner forderten ausserdem den Austausch von Kriegsgefangenen und die Rückkehr von nach Russland verschleppten Kindern und anderen Zivilisten. Am Rande der Konferenz hatte Jake Sullivan, der Berater für nationale Sicherheit des amerikanischen Präsidenten Joe Biden, erklärt, Katar habe jüngst dabei geholfen, die Rückkehr von ungefähr dreissig ukrainischen Kindern aus Russland zu vermitteln. Sullivan vertrat am Sonntag Kamala Harris. Die amerikanische Vizepräsidentin war noch am Samstagabend zurück in die USA geflogen. Auch andere hochrangige Gäste, wie der britische Premierminister Rishi Sunak oder der deutsche Kanzler Olaf Scholz, reisten früh wieder ab. Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni hingegen reiste als Letzte erst am Sonntagmorgen an.
Wichtige Unterschriften fehlen
Dass die Vereinigten Staaten das Abschlussdokument mittragen würden, stand zu keinem Zeitpunkt auf der Kippe. Noch am Sonntagmorgen hatte Sullivan der Schweiz zum «enormen Erfolg» mit dieser Konferenz gratuliert.
Anders sah das bei wichtigen Staaten des sogenannten globalen Südens aus. Unter den Ländern, die nicht zustimmten, sind 6 Staaten aus der G-20 der wichtigsten Wirtschaftsmächte der Welt: Indien, Brasilien, Mexiko, Saudiarabien, Südafrika und Indonesien trugen die Gipfelerklärung nicht mit. Ausserdem scherten Armenien, Bahrain, Thailand, Libyen und die Vereinigten Arabischen Emirate, Kolumbien und der Abgesandte des Vatikans aus.
Brasilien, Indien, Südafrika und die Vereinigten Arabischen Emirate sind mit Russland in der sogenannten Brics-plus-Gruppe zusammengeschlossen. Sie pflegen, auch über zwei Jahre nachdem russische Truppen in der Ukraine einmarschiert sind, ein gutes Verhältnis zu Russland. Ihre Teilnahme war für die Organisatoren der Konferenz wichtig, denn ihr erklärtes Ziel war es, möglichst viele nichtwestliche Staaten auf den Bürgenstock zu lotsen. Um deren Sichtweise einzubinden, war schon im letzten Entwurf der Abschlusserklärung, der am Samstag zirkulierte, Rücksicht genommen worden: Russland wird darin nicht ausdrücklich für seinen Angriff verurteilt.
Nachfolgekonferenz in Saudiarabien steht noch nicht fest
Zu den Gründen dafür, dass diese Staaten die Abschlusserklärung nicht mittrugen, gaben sich sowohl Bundespräsidentin Viola Amherd als auch der EDA-Chef Ignazio Cassis schmallippig. Man habe verschiedene Gespräche geführt, zu den spezifischen Gründen könnten sich aber nur die Länder direkt äussern, erklärte Cassis. Dass sich die weit überragende Mehrheit der anwesenden Staaten auf das Bürgenstock-Communiqué geeinigt habe, zeige aber, was Diplomatie in geduldiger Arbeit leisten könne, so Amherd. Zur Enthaltung von Saudiarabien erklärte der finnische Präsident Alexander Stubb im Gespräch mit der NZZ jedoch, dass das Land für die Ausrichtung einer weiteren Friedenskonferenz in Betracht kommen könnte und daher seine Position als neutraler Vermittler nicht habe kompromittieren wollen.
Schon im Vorfeld der Bürgenstock-Konferenz waren laut Informationen der NZZ bereits Verhandlungen darüber im Gang, ob eine mögliche Folgekonferenz im saudischen Riad stattfinden könnte. Angesprochen darauf, sagte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski: «Die Ukraine hat gute, starke Beziehungen zu Saudiarabien.» Er freue sich auf einen allfälligen nächsten Gipfel in Saudiarabien.
Allerdings findet sich zu einer Nachfolgekonferenz in der Erklärung keine klare Aussage. Die Unterzeichner sprechen sich aber dafür aus, Russland an künftigen Beratungen zu beteiligen. Ein Termin oder ein Ort für einen nächsten Gipfel mit Russland werden aber nicht genannt.
Zur Frage, wann genau und wie Russland künftig in den Prozess einbezogen werden soll, gab es zwischen den 101 Delegationen am Gipfel keine Einigkeit. Russland war nicht zu der Konferenz in der Schweiz eingeladen worden. Doch kurz vor Beginn des Treffens hatte der russische Präsident Wladimir Putin überraschend neue Forderungen für einen Frieden im Krieg mit der Ukraine gestellt. Unter anderem meldete er Anspruch auf vier ukrainische Regionen an und forderte eine Garantie, dass die Ukraine nicht der Nato beitritt.
Dies sei kein Verhandlungsangebot, sondern der Aufruf zu einer Kapitulation der Ukraine, hiess es dazu von verschiedenen Gipfelteilnehmern. Gleichwohl schreiben die Unterzeichner des Bürgenstock-Communiqués: «Wir glauben, dass die Einbeziehung und der Dialog zwischen allen Parteien notwendig ist, um Frieden zu schaffen.»
Wolodimir Selenski erklärte dazu, dass eine Teilnahme Russlands an einer Friedenskonferenz bedeuten würde, dass Moskau beschlossen habe, den Krieg zu beenden. Moskau könne morgen direkt mit Kiew verhandeln, sobald es sich aus den besetzten Gebieten zurückziehe, so der ukrainische Präsident.