In einigen ostdeutschen Städten blüht die Wirtschaft, doch auf dem Land überwiegt die Einöde

in einigen ostdeutschen städten blüht die wirtschaft, doch auf dem land überwiegt die einöde

Statt «blühender Landschaften» sind in Ostdeutschland eher «blühende Städte» entstanden, darunter das von einem Halbleiter-Cluster geprägte Dresden. Im Bild eine Szene aus dem dortigen Chip-Werk von Infineon. Sean Gallup / Getty

«Durch eine gemeinsame Anstrengung wird es uns gelingen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Sachsen und Thüringen schon bald wieder in blühende Landschaften zu verwandeln, in denen es sich zu leben und zu arbeiten lohnt.» Seit der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl am 1. Juli 1990, dem Tag der Einführung der D-Mark auf dem Gebiet der DDR, diesen Satz erstmals ausgesprochen hat, ist er wieder und wieder zitiert worden –zunehmend allerdings mit höhnischen oder resignierten Untertönen.

Ostdeutschland ist AfD-Land

Fast 35 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer treibt die Frage nach dem wirtschaftlichen Zustand des ehemals kommunistischen Ostens Deutschlands die Menschen noch immer um. Sie wird auch in den anstehenden Wahlkämpfen eine wichtige Rolle spielen, da im September in drei der fünf ostdeutschen Bundesländer, nämlich Brandenburg, Sachsen und Thüringen, die Landtage neu gewählt werden. Umfragen deuten auf einen Siegeszug der AfD hin, die vor allem im Osten stark ist und auch von den dortigen wirtschaftlichen Schwächen profitiert.

Wie also ist der Stand? Eine wirtschaftliche Aufholjagd hat gemessen an der Wirtschaftsleistung pro Kopf vor allem kurz nach der Wende stattgefunden, danach flachte sich das Wachstum bald wieder ab. Alle drei genannten Bundesländer liegen noch immer deutlich unter dem Durchschnitt der westdeutschen Bundesländer (einschliesslich Berlin). Nimmt man das Bruttoinlandprodukt (BIP) pro Erwerbstätigen zu Preisen von 2018 zum Massstab, beträgt der Rückstand 12 Prozent in Brandenburg sowie je rund 20 Prozent in Sachsen und Thüringen.

Verwendet man stattdessen das BIP je Einwohner, ist der Abstand noch grösser, weil der Anteil nichterwerbstätiger Personen, vor allem der Pensionäre und Rentner, im Osten grösser ist.

Aufholprozess der neuen Bundesländer stockt

«Anfang der 1990er Jahre hat es einen sehr starken Aufholprozess gegeben, doch seit der Jahrtausendwende ist der Konvergenzprozess nur noch sehr schwach», sagt Joachim Ragnitz vom Ifo-Institut Dresden im Gespräch. «Seitdem dümpelt der Osten mehr oder weniger vor sich hin.»

Leichte Aufholbewegungen gebe es inzwischen vor allem noch in Krisenzeiten wie zum Beispiel während der Finanzkrise, in denen Ostdeutschland etwas weniger leide als Westdeutschland, ergänzt Reint Gropp vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH). Dies liege daran, dass dort der Staatsanteil grösser sei. So sei etwa der Anteil der Rentner höher als im Westen. Deren Einkommen aber sinke in der Krise nicht, während Bankangestellte vielleicht ihren Job verlieren würden.

Während es in Westdeutschland grosse Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern gebe, lägen die ostdeutschen Länder gemessen an allen wichtigen makroökonomischen Kennzahlen relativ nahe beieinander, hebt Gropp hervor. «Und es ist immer noch so, dass das reichste ostdeutsche Bundesland gemessen am Pro-Kopf-Einkommen deutlich hinter dem ärmsten westdeutschen zurückliegt», fügt er an.

Bis heute rächt sich die Abwanderung

Sucht man nach den Ursachen des anhaltenden Rückstands, fällt der Blick rasch auf die demografische Entwicklung. Etwa zweieinhalb Millionen Menschen hätten nach der Wiedervereinigung den Osten Deutschlands in Richtung Westen verlassen. Während der Zuzug junger, gut ausgebildeter Menschen den westdeutschen Unternehmen sehr geholfen habe, fehlten im Osten heute nicht nur diese damals jungen Menschen, sondern auch deren Kinder, erklärt Gropp. Verschärft wurde diese Entwicklung durch niedrige Geburtenraten nach der Wende.

Per Ende 2023 lebten nur 8,8 Millionen von insgesamt knapp 85 Millionen Einwohnern Deutschlands in den drei Bundesländern, in denen gewählt wird. Der Wanderungssaldo zwischen Ost und West ist inzwischen seit mehreren Jahren etwa ausgeglichen. Tendenziell sei es aber immer noch so, dass junge, gut ausgebildete Frauen von Ost nach West gingen und ältere Rentnerpaare nach einem Arbeitsleben im Westen zurück in ihre ostdeutsche Heimat kämen, gibt Gropp zu bedenken. Für eine dynamische wirtschaftliche Entwicklung ist dies keine gute Voraussetzung – und rasche Besserung ist nicht in Sicht.

Allenorts fehlen Arbeitskräfte

Diese demografische Entwicklung erklärt auch, warum die nach der Wende massiv in die Höhe geschossene Arbeitslosigkeit in den ostdeutschen Bundesländern inzwischen einem Arbeitskräftemangel gewichen ist. Die Entlastung des angespannten Arbeitsmarkts durch Zuwanderung ist hier viel geringer als im Westen, da Zuwanderer – abgesehen von zugeteilten Flüchtlingen – zu wenig in den Osten ziehen.

Einen weiteren Grund für den anhaltenden wirtschaftlichen Rückstand sieht Ragnitz in der Kleinteiligkeit der ostdeutschen Unternehmenslandschaft. Es gibt nur wenige ganz grosse Unternehmen und fast keine Konzernzentralen. Das drücke die Produktivität und das BIP pro Einwohner. Dahinter steht der empirische Befund, dass grosse Unternehmen im Schnitt produktiver sind und höhere Löhne zahlen als kleine und mittlere Firmen.

Subventionen mit Spätfolgen

Der grössere Anteil kleiner Unternehmen im Osten als im Westen kann damit zur Erklärung beitragen. Sie reicht allerdings nicht aus, wie der IWH-Forscher Gropp hervorhebt. Denn auch wenn man kleine und mittlere Unternehmen im gleichen Sektor vergleiche, zeige sich derselbe Produktivitäts- und Lohnunterschied von rund 20 Prozent zwischen Ost und West wie insgesamt.

Gropp sieht in diesen Unterschieden auch eine Spätfolge der Subventionspolitik nach der Wende. Damals habe man angesichts der hohen Arbeitslosigkeit Unternehmen subventioniert, wenn sie bestimmte Beschäftigungsziele erreicht hätten. Das habe die Pro-Kopf-Produktivität gesenkt, da die Betriebe Mitarbeiter behalten hätten, die ohne diese Vorgaben entlassen worden wären. Als Beispiel nennt er das Chemiekombinat Buna aus der DDR-Zeit, das bei der Wende rund 30 000 Mitarbeiter gehabt habe. Mit hohen Subventionen habe man vergeblich versucht, zu retten, was grösstenteils nicht zu retten gewesen sei.

Boom hängt an Region, nicht am Bundesland

Ist die Lage also düster in «Dunkeldeutschland», wie der Osten im Westen manchmal noch immer verächtlich genannt wird? Nein, denn es gibt in den ostdeutschen – ebenso wie in den westdeutschen – Bundesländern eine starke Binnendifferenzierung. Zum Teil sind tatsächlich blühende Landschaften entstanden, meistens sind es genaugenommen jedoch blühende Städte und Metropolregionen, wogegen weit draussen auf dem Land oft wirtschaftliche Ödnis herrscht.

In Brandenburg sei vor allem der Berliner Gürtel attraktiv, sagt Ragnitz vom Ifo-Institut. Das Bundesland umschliesst die Hauptstadt komplett. Das bekannteste Beispiel sei die Tesla-Fabrik in Grünheide. Dagegen sei zum Beispiel die Grenze zu Polen recht strukturschwach.

In Sachsen stünden vor allem Dresden und Leipzig gut da, ergänzt der Forscher. Rund um Dresden ist ein Halbleiter- und Elektronik-Cluster entstanden, das über Deutschland hinaus als «Silicon Saxony» bekannt ist. Unter anderem gibt es – teilweise unterstützt durch hohe Subventionen – Ansiedelungen von Bosch, Infineon, Applied Materials, Globalfoundries sowie NXP und X-FAB Semiconductors. Demgegenüber sind auch in Sachsen die Regionen an der Grenze zu Tschechien und Polen, abgesehen vom Tourismus, wirtschaftsschwach.

in einigen ostdeutschen städten blüht die wirtschaft, doch auf dem land überwiegt die einöde

Das «Silicon Saxony» wächst weiter: Im Beisein von Ministerpräsident Michael Kretschmer (r.) hat Infineon Ende Mai die finale Bauphase des zweiten Halbleiterwerks in Dresden eingeleitet. Sylvio Dittrich / Imago

In Leipzig wiederum ist durch Werkansiedelungen von BMW und Porsche ein Automobil-Cluster entstanden. Die beiden genannten Konzerne sowie Zulieferer, Logistikfirmen, Ingenieurbüros, IT-Dienstleister und Spezialanfertiger prägen das Cluster. Die Unternehmen beschäftigen in der Region inzwischen rund 20 000 Mitarbeiter und machen knapp 2 Milliarden Euro Umsatz.

Der Erfolg der Städte verschärfe jedoch die Probleme im ländlichen Raum, sagt Gropp. «Wir nennen das den Staubsaugereffekt, weil die boomenden Metropolen letztlich Arbeitskräfte vom weiteren Umland anziehen.» Ragnitz verweist zudem darauf, dass die neuen Unternehmen zum Teil Arbeitskräfte von etablierten Firmen zu deren Schaden abwerben.

In Thüringen sind Jena mit bekannten Firmen wie Jenoptik, Schott, Wacker Chemie und Carl Zeiss sowie Eisenach mit einem kleinen Automobil-Cluster dank der Ansiedelung von Opel und Bosch prosperierende Regionen.

Hinzu kommt das Erfurter Kreuz zwischen Erfurt und Arnstadt. Es trägt seinen Namen, weil sich hier die Bundesautobahnen 4 und 71 kreuzen, was aus logistischen Gründen für Firmen attraktiv ist. Das Erfurter Kreuz gilt als das grösste Gewerbegebiet in Thüringen. Hier hat sich vor kurzem zum Beispiel der chinesische Batterie-Hersteller CATL angesiedelt. Generell werden die Verfügbarkeit von grossen Gewerbeflächen und ein vergleichsweise üppiges Angebot an erneuerbaren Energien als Stärke des Ostens genannt.

Abhilfe durch Bildung und Forschung?

Wie auch im Westen dürften die Unterschiede zwischen Stadt und Land bestehen bleiben oder sich sogar noch akzentuieren. In den ostdeutschen Ländern gibt es allerdings weniger Städte als im Westen, dafür jedoch sozusagen mehr Landschaft. Die Einflussmöglichkeiten der Politik halten die beiden Forscher für begrenzt, vor allem auf Themen wie Arbeitskräfteknappheit und Demografie. In Berlin hat man sich zudem stets gegen die hin und wieder diskutierte Einrichtung von Sonderwirtschaftszonen entschieden, und die Steuerhoheit liegt in den meisten Bereichen beim Bund.

Hilfreich wäre, Unternehmen ein möglichst attraktives Umfeld zu bieten. Diese suchen jedoch in der Regel ein Bündel von Standortfaktoren – von attraktiver Besteuerung und Lage über Arbeitskräfteverfügbarkeit und effiziente Verwaltung bis hin zum familienfreundlichen Umfeld mit Kitas und (internationalen) Schulen.

Gropp vom IWH plädiert zudem für die Förderung von Universitäten und Bildungseinrichtungen. Diese würden gebildete junge Menschen anziehen, die dann zumindest teilweise in der Region bleiben und eine Familie gründen würden. Als positive Beispiele nennt er in den USA die Stanford University und in Deutschland die TU Darmstadt. In Leipzig und Dresden funktioniere das schon recht gut.

Einfluss der Politik auf das Image

Schwer einzuschätzen und kaum untersucht ist der Einfluss des politischen Images der Region auf die Wirtschaft. Derzeit sei er wohl nicht sehr gross, meint Gropp. Sollte sich allerdings die AfD in einem Bundesland an der Regierung beteiligen oder gar den Ministerpräsidenten stellen, könnte das ausländische Zuwanderer und Unternehmen abschrecken. Während die AfD wohl nicht in die Regierungen kommen werde, werde es je nach Wahlergebnis für die etablierten Parteien schwieriger, Mehrheiten zu finden und eine Regierung zu bilden, ergänzt Ragnitz. Damit könnte es zu instabilen Koalitionen und gegenseitigen Blockaden kommen, was den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen kaum förderlich wäre.

Auch ohne solche zusätzliche Erschwernisse wird es flächendeckende blühende Landschaften in Ostdeutschland aus den genannten Gründen auf absehbare Zeit nicht geben. Aber die Arbeitslosigkeit ist weitgehend ausgemerzt, und es gibt die erwähnten «blühenden Städte und Regionen», die sich weiterentwickeln werden. Vielleicht war es schlicht unrealistisch, je mehr zu erwarten und zu versprechen.

Sie können dem Frankfurter Wirtschaftskorrespondenten Michael Rasch auf den Plattformen X, Linkedin und Xing folgen. Den Berliner Wirtschaftskorrespondenten René Höltschi finden Sie auf X und Linkedin.

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