Nach Bergrutsch: «Weitermachen, so lange, bis es ist, wie es war»
Nach dem Bergrutsch in Lostallo versuchen die Einwohner, sich zur Normalität zurückzuarbeiten. Ein Augenschein vor Ort.
Über dem Misox hängen graue Wolken. Ab und an fallen einige Regentropfen. Auf einer Restaurantterrasse in Lostallo sind zwei Tische besetzt. Helfer und Einwohner trinken einen Kaffee. Franco (65) eine Stange. Eine Person ist bei den Unwettern vergangenen Freitag gestorben, zwei werden noch vermisst. «Natürlich war das ein Schock. Den Verstorbenen kannte ich seit meiner Kindheit», erzählt Franco. «Es ist tragisch. Dennoch muss man weitermachen.»
Das Ausmass des Bergrutsches hätten die meisten erst tags darauf wirklich wahrgenommen. «Den Lärm des Gerölls habe ich gehört. Mein Haus hat vibriert», erzählt der 65-Jährige. Die zwei Vermissten kenne er nicht persönlich. Erst kürzlich, im Februar, seien sie hierhergezogen. «Viele der Alten des Dorfes kennen die Neuen nicht – und umgekehrt.» Das brauche jeweils Zeit.
«Wegziehen kommt nicht infrage»
In Sorte, einem kleinen Ortsteil von Lostallo, in dem der Bergrutsch mehrere Häuser dem Erdboden gleichmachte, lebt auch die Familie Lia. Roberto Lia und seine Frau Nadia haben in den vergangenen Tagen Zeit darauf verwendet, den Keller von Schlamm und Wasser zu befreien. «Die Menschen im Dorf sind geschockt», sagt Nadia. Sie hätten Glück gehabt, dass es sie nicht schlimmer getroffen habe. Angst hätten sie keine gehabt – auch jetzt nicht. «Wegziehen kommt für uns nicht infrage», so Robert.
Für Familie Lia ist klar: «Wir bleiben in Sorte.»
Evakuierte kommen bei Familie und Freunde unter
Nicola Giudicetti, Gemeindepräsident, ist im Dorfkern unterwegs: «Die Aufräumarbeiten sind streng, wir arbeiten viel. Doch tagsüber wirkt das Adrenalin.» Nachts im Bett erst würden dann seine Gedanken rund um die Arbeit kreisen, die noch anstehe. Giudicetti sei dankbar für jede Hilfe – «die Solidarität ist schön». Die Menschen, die evakuiert werden mussten, seien bei Familie und Freunden untergekommen.
Nicola Giudicetti, Gemeindepräsident, schätzt die Solidarität der Helferinnen und Helfer.
So auch Renzo (72). Am Dienstagmorgen konnte er mit seiner Frau in ihr Haus in Sorte, um Kleider und Medikamente zu holen. «Es war emotional.» Die beiden seien aber froh, gehe es ihnen gut und stehe ihr Haus noch. Wie es nun weitergehe, wissen sie noch nicht genau. «Jetzt brauchen wir Zeit und Geduld.»
Renzo und seine Frau mussten aus ihrem Daheim evakuiert werden. Zur Zeit wohnen sie bei Verwandten.
25-Jähriger bezieht Ferientage, um zu helfen
Joy (25) wohnt in Locarno, doch hat sich die vergangenen Tage extra Ferien genommen, um Roby zu helfen. Robys Grotto wurde komplett mit Schlamm und Geröll geflutet. «Natürlich ist es schlimm. Ein Mensch ist gestorben, einige werden noch vermisst», sagt Roby. Trotzdem sei er froh, dass das Unwetter nicht noch mehr Menschenleben genommen habe.
Joy und zehn weitere junge Personen baggern, schaufeln und krampfen, um das Grotto vom Schlamm zu befreien. «Man denkt immer, so etwas passiert doch nicht – und jetzt ist es passiert», so Joy. Morgens um acht Uhr hätten sie mit den Aufräumarbeiten begonnen, kurz gegessen, jetzt arbeiten sie weiter bis sieben, vielleicht acht Uhr. Und Roby meint: «So lange, bis alles wieder so ist, wie es war.»
«Gegen die Natur kann man nichts machen»
Zwei Personen werden seit dem Unwetter nach wie vor vermisst. Zivilschützer arbeiten sich mit Baggern vorsichtig um das Haus des Paares herum und entfernen Felsbrocken. Daniele Corecco, Mediensprecher des Führungsstabs Moesa, erzählt von motivierten Zivilschützern und Freiwilligen: «Wir hoffen, die Vermissten zu finden. Wir suchen einfach weiter.»
Corecco lebt im Calancatal und hat schon einige Bergrutsche in den Tälern miterlebt. Doch dieses hier sei besonders schlimm.
Viele der Helfer würden sich freiwillig melden, auch Zivilschützer blieben länger. Corecco lebt im Calancatal und hat schon einige Bergrutsche in den Tälern miterlebt. «Etwa sieben bis acht.» Doch dieser hier sei besonders schlimm. Der Anblick der riesigen Felsen, die Tage zuvor ins Tal donnerten, sei erdrückend. «Wir leben in den Bergen – die Natur entscheidet, dagegen kann man nichts machen.»
Bewohner machen sich gegenseitig Mut
Betti war gerade in Bellinzona, als der Berg sich in Bewegung setzte. Doch sie erzählt, dass der Regen das Unglück «angekündigt» hatte: «Bereits am Nachmittag war der Himmel schwarz und der Regen anders als sonst», erzählt sie. «Mein Schwiegersohn hat in den Whatsapp-Gruppenchat geschrieben, dass heute bestimmt noch etwas passieren werde.» Betti und ihre Freundinnen würden nun den Helfern jeweils Mittagessen und Znüni vorbeibringen. «Jetzt müssen wir einander helfen, Mut machen – und arbeiten.»