Die Diskussion um das Nationalteam in England ist so toxisch, dass den Fussballern die Beine zittern
Grosse Erwartungen, riesige Enttäuschung: Englische Fans in Deutschland. Markus Schreiber / AP
Zwar hat Gareth Southgate die Engländer in der Vorrunde zum Gruppensieg geführt, aber das reicht nicht. Der Tadel wegen der inspirationslosen Auftritte fällt in der Heimat so aus, als wäre man ausgeschieden. Experten und Medien sprechen dem Nationaltrainer gerade nahezu jede Kompetenz im Job ab. Im vermeintlich leichteren Turniertableau treffen die Engländer im Achtelfinal am Sonntag auf den Aussenseiter Slowakei.
Englands Chefkritiker Gary Lineker bewertete in seinem Podcast «The Rest Is Football» die Leistung im zweiten Spiel als «scheisse» und suggerierte, der Trainer sei «taktisch unfähig». Die «Sun» fand, Southgate sei ein «umgekehrter Alchemist», der «Gold in unedles Metall» verwandle. Dabei formte er de facto in seinem Gesamtwerk eine wirklich rostige Nationalmannschaft wieder zu einem Edelstein.
Es entsteht der Eindruck, das Land agiere bisweilen gegen das Team und speziell gegen den Trainer – vielleicht, weil man an Niederlagen gewöhnt ist, einen möglichen Erfolg neidet oder damit Aufmerksamkeit erzeugt. Während der EM konkurrieren die TV-Sender BBC und ITV um die Gunst eines Publikums im zweistelligen Millionenbereich, weshalb in der englischen Öffentlichkeit häufig von einem «TV-Krieg» die Rede ist. Sie teilen sich die Spiele zwar auf, aber den Final mit dem wahrscheinlich grössten Interesse übertragen beide gleichzeitig.
Jude Bellingham fühlt sich «tot»
Für ihre Berichterstattung haben die Sender jeweils bekannte Ex-Nationalkicker engagiert und sie mit kostspieligen Exklusivverträgen ausgestattet. Auf eine Zuschauerfrage zum Verhältnis der Rivalen sagte der Ex-Profi und BBC-Vertreter Micah Richards, die England-Partien seien diejenigen, in denen man als Experte eine «wirklich gute Leistung bringen» wolle.
Die meisten Experten verstehen sich dabei offensichtlich weniger als Feuerlöscher denn als Brandstifter. Sie messen die Mannschaft anhand ihres Potenzials und lassen die Verfassung der Spieler weitgehend ausser acht. Jude Bellingham gestand etwa nach der Vorrunde, sich «absolut tot» zu fühlen. Der 20-Jährige hat in dieser Saison bereits über fünfzig Pflichtspiele absolviert, obschon er einige Zeit verletzt ausgefallen war. Auch Englands Captain Harry Kane fehlt nach Rückenproblemen sichtbar die Fitness; und der Langzeitverletzte Luke Shaw ist erst jetzt einsatzbereit.
An einer Pressekonferenz wurde Southgate kürzlich ohne Kontext von einem marokkanischen Reporter gefragt, ob er einen Ratschlag für Marokkos Nationaltrainer habe. Die Frage erwischte Southgate auf dem falschen Fuss. Er hätte sie einfach zurückweisen können, er hat ja gerade andere Sorgen. Aber Southgate antwortete humorvoll, ihm stehe kein Urteil zu, Marokko habe doch die WM 2022 vor England abgeschlossen. Der Penalty, den Southgate 1996 im EM-Halbfinal gegen Deutschland verschossen hat, für den er mit Hohn und Spott geschmäht worden ist, hat den Mann für immer respektvollen Umgang mit Menschen gelehrt.
Die Erfahrung von einst dürfte Southgate verstärkt veranlasst haben, mit den typischen Gepflogenheiten des Landes zu brechen. Statt auf vermeintlich englische Art überheblich mit dem Kopf durch die Wand zu gehen, entwickelte er sich zu einem besonnenen Strategen. Nachdem er im Herbst 2016 die Nationalelf nach dem peinlichen EM-Aus gegen Island und dem folgenden 67-Tage-Trainerflop Sam Allardyce übernommen hatte, zog er die Engländer mit Bodenständigkeit und Akribie aus dem Sumpf des Fatalismus. Darin war das Land der ewig Ungekrönten seit dem WM-Heimsieg 1966 versackt, dem bisher einzigen Titel.
Unter Southgates Führung gelang den Engländern wieder der Sprung an die Weltspitze, sie wurden WM-Vierter 2018, EM-Zweiter 2021 und WM-Viertelfinalist 2022. Der 53-Jährige löste Euphorie aus und demonstrierte den Landsleuten, die im Fussball nur Himmel und Hölle kennen, dass man auch an Siegen unbeschwert Freude haben kann.
Durch die starken Turnierplatzierungen kehrte in England jedoch die alte masslose Erwartungshaltung zurück, die seit dem allerersten Anpfiff nur einen Sieger kennt: England. Sie basiert auf der Eigenwahrnehmung, wonach sich die Nation (nicht ganz zu Unrecht) als das Mutterland des Fussballs begreift. Sie manifestierte sich über wunderbare Spieler und ein florierendes Ligensystem. Mit der Einführung der überall bewunderten Premier League 1992 und der zunehmenden Globalisierung festigte sich der Anspruch, die Nummer eins zu sein.
Nicht in bester Form: Harry Kane, England-Captain. Kieran McManus ;/ Imago
Harry Kane ermahnt die Kritiker
Die englische Berichterstattung schlägt seit dem Turnierstart einen so toxischen Tonfall an, dass sie selbst abgehärtete Fussballer in ihrem Selbstvertrauen stark beeinträchtigt. Der enorme Titeldruck, der sich für Nichtbetroffene kaum nachempfinden lässt, ist den Spielern quasi bei jedem Schritt anzumerken. Einigen wackelt der Fuss im Nationaltrikot wie nie zuvor, sie leisten sich krasse Aussetzer bei Ballannahme und Passspiel. Die Angst vor einer Blamage und dem damit möglichen Rückfall in alte Zeiten ist allgegenwärtig. Southgate sagte, man müsse momentan «sehr, sehr gut aufpassen», dass es weiter Freude bereite, das England-Trikot zu tragen.
Immerhin wehrt sich die Mannschaft, auf und neben dem Platz. Kane verfügte, einstige Nationalspieler, die mit England nie einen Pokal gewonnen hätten – wie Lineker –, sollten verbal einen Schritt zurücktreten. Und im letzten Gruppenmatch, als den Engländern das Weiterkommen bereits garantiert war, begann auch das Eis in der Offensive langsam zu schmelzen. Eine Dynamik des Anpackens setzte ein.
Der «Guardian» ermunterte das Team vor der K.-o.-Phase, die Verklemmtheit abzulegen – mit einer Anspielung auf die Gepflogenheiten im Gastgeberland. Auf Deutschlands Autobahnen gebe es doch auch kein Tempolimit, schrieb die Zeitung: «Daher, komm schon, Gareth: Spüre den Wind in deinen Haaren!» Der Wind in England könnte sich also noch rechtzeitig drehen.