Erdanziehung ade!
Feiert an der ;Fussball-EM in Deutschland ein erstaunliches Comeback: der Pop-Star Peter Schilling. Illustration Dario Veréb / NZZaS
Auf Tiktok, diesem untrüglichen Seismografen der Gegenwart, macht gerade ein wunderbares Video die Runde. Es zeigt einen Saxofonisten, wie er auf der Fanmeile von Frankfurt die alte Pop-Hymne «Völlig losgelöst» anstimmt – und die Menge um ihn herum sofort ausrastet. Ja, Deutschland mag eine Menge Probleme haben dieser Tage, doch der Soundtrack zur Fussball-Europameisterschaft gehört mit Sicherheit nicht dazu.
Vor einem Monat klang das noch ganz anders. Da mutierte ein Ohrwurm zum Monster, nachdem eine schnöselige Clique auf der Luxus-Insel Sylt «L’amour toujours» von Gigi d’Agostino gegrölt hatte – eigentlich ein Disco-Stampfer der Jahrtausendwende, so prollig wie banal, nun aber eben mit einem rassistischen Text neu codiert. Vergeblich pochte D’Agostino auf seine guten Absichten. Denn was einmal zum Meme geworden ist, kann nicht mehr zurückgenommen werden: Der Song wurde zum akustischen Erkennungssignal für Rechtsextreme, und das kurz vor der Fussball-EM.
Würde sich der Faschismus in den Fankurven Bahn brechen? Würde er ironisch «L’amour toujours» anstimmen und neckisch mit dem Arm wedeln, hitlergrussgrüssend? Diese Angst hat sich bisher nicht bestätigt. Stattdessen wird in den Stadien und auf den Strassen «Völlig losgelöst» geträllert, gesungen und gejohlt. Ein Lied aus einer fernen Zeit (frühe Achtziger), aus der Feder eines vergessenen Pop-Stars (Peter Schilling), aus einem fernen Raum kommend (andere Galaxie, vermutlich), wattiert mit extraterrestrischen Halleffekten und kulminierend in einem Refrain, bei dem sich die Zeit eigentümlich zu dehnen scheint, so wie ja auch das Universum bekanntermassen stetig expandiert. Das Lied handelt von einem Astronauten, der sich freigemacht hat von allen Zwängen, von Major Tom.
Diese Hymnenwahl ist vollauf geglückt – was umso bemerkenswerter ist, als dass man heute durchaus einiges falsch machen könnte. Die harmlose Anhängerschaft fürs eigene Land aufpeitschen zum Chauvinismus. Oder die Leute nerven mit pädagogischen Diversity-Lektionen. Aufs Neue das You-can-do-it-Leistungspathos abfeiern, die Fans ein weiteres Mal zu dumpfen Claqueuren eines kalkulierten Auftrags-Beats degradieren. Stattdessen nun: «Völlig losgelöst». Ein Fan hatte eine Online-Petition gestartet, rasch waren Zehntausende dafür – und schon war der alte Song zur neuen Torhymne des Deutschen Fussball-Bundes geworden.
Das Frankfurter Stadion sang, als die Deutschen im Testspiel gegen die Niederlande trafen und der Song erstmals abgespielt wurde. Ein Stück bundesdeutscher Musikgeschichte war wieder lebendig geworden. Er sei zu Hause auf dem Sofa gesessen und in Tränen ausgebrochen, erzählte danach Peter Schilling, der vergessengegangene Pop-Star. Es sei «schon ein cooles Lied», erklärte Thomas Müller, der grundsympathische, ebenfalls bereits legendäre, aber immer noch kickende Klabautermann des deutschen Fussballs. Das war im Frühling. Nun, da die Europameisterschaft in Schwung gekommen ist, geht die Karriere von «Völlig losgelöst» in die nächste Umlaufbahn. Der Song passt mit seiner naiven New-Wave-Atmosphäre eigentlich nicht recht zur Gegenwart, ebenso wenig sein Saxophon-Interpret, der zum Tiktok-Star geworden ist – und wirkt gerade dadurch so neuartig und so erfrischend.
Ja, vielleicht ist das bloss Eskapismus, eine heitere Blödelei. Andererseits: Womöglich ist da draussen im All die Welt ja tatsächlich noch in Ordnung. «Wenn die wüssten», sagt Major Tom, als der Funkkontakt zur Basis abgebrochen ist. «Mich führt hier ein Licht.»
Schillings Song ist derweil zurück in den deutschen Charts, nur noch zwei Plätze hinter den Top Ten. «L’amours toujours», nach dem Sylt-Skandal ebenfalls reaktiviert, lässt er damit weit hinter sich. So wie die Rakete einen unansehnlichen Gesteinsbrocken hinter sich lässt.