Im Gottesdienst der Fussballfans: wie der «Doppelpass» zu einem der wichtigsten Talks in Deutschland wurde

Gegen Ende der TV-Sendung «Doppelpass» kommt der langjährige Bundesliga-Trainer Peter Neururer in Fahrt, ihm liege etwas auf der Seele. Als wäre es seine heilige Pflicht, seinem Brotgeber zum Sonntagsbrunch eine Schlagzeile zu liefern.

Neururer zweifelt im Fussball-Talk an der Loyalität des neuen BVB-Trainers Nuri Sahin, der eben noch Assistent seines Chefs Edin Terzic war und nun als dessen Nachfolger vorgestellt wurde. Neururer sagt: «Mir wird da wirklich schlecht!» Er lässt Sahin als überehrgeizigen Schattenmann erscheinen und wirft ihm Populismus vor. Neururers Sitznachbar, die Tennislegende Boris Becker, hakt ein und sagt, die Vorgänge in Dortmund kämen ihm «spanisch» vor.

Der Talk dreht sich lange um die Bundesliga, nicht um die laufende EM. Kaum ist Neururers Statement live ausgestrahlt, pusht der Sender Sport1, der den «Doppelpass» produziert, ein Online-Video mit dem Titel: «Attacke auf Sahin». Und legt später nach: «BVB-Wirbel beim Dopa: Was hinter der Wutrede gegen Nuri Sahin steckt». Andere Medien springen auf. Die «Bild»-Zeitung schreibt von «Zündstoff-Aussage» und «Weissglut». Der Kölner «Express» titelt: «Was Kult-Coach so wütend macht». Womöglich denkt sich Neururer: Job erfüllt!

Kurz nach der Sendung: Die NZZ trifft Neururer im Backstage-Bereich beim Hilton-Hotel am Flughafen München, wo die Sendung aufgenommen wurde. Man zuckt zusammen, wenn Neururers Handy klingelt – sein Jingle besteht aus lautem Torjubel. Und es klingelt oft, denn die Leute, die seinen Auftritt gesehen haben, wollen diskutieren. Nicht ohne Stolz sagt Neururer, in den Stunden und Tagen nach einer Sendung könne es vorkommen, dass er hundert solche Meldungen erhalte. Und falls sich die Leute zu erkennen gäben, beantworte er jede einzelne. Anonyme Anrufer sperrt er, «ich habe 7000 blockierte Nummern».

Keine Live-Rechte – also musste die Not erfinderisch machen

Ein anderer Experte in der Runde, Stefan Effenberg, ist an diesem Sonntag zahmer. Er wirkt generell gemässigter als andere frühere Granden des FC Bayern, die auch ins Experten-Geschäft eingestiegen sind, als Mario Basler etwa oder Dietmar Hamann. Ist Effenberg mit 55 altersmilde? Als Fussballer war er nie um eine pointierte Meinung verlegen.

Der NZZ sagt der frühere Champions-League-Sieger, als Profi habe er halt seine Farben verteidigt, da sei er automatisch energischer zur Sache gegangen. Nun als Experte sei er neutral, da falle das weg. Und er glaube, das Publikum wolle gar nicht, dass man immer nur draufhaue. Aber klar, ein Schönredner wolle er nicht sein. Wenn etwas schlecht sei, müsse man es ansprechen, auch wenn es um den FC Bayern gehe, für den er als Botschafter arbeite.

Seine Kritik müsse einfach zwei Kriterien erfüllen: «Sie muss gut begründet sein. Und ich darf nicht persönlich werden.» Seine Erfahrungen als Bayern-Spieler hülfen ihm, den Druck auszuhalten, den die neue Rolle mit sich bringe. Er wirkt, als sei er für jeden Shitstorm gerüstet.

im gottesdienst der fussballfans: wie der «doppelpass» zu einem der wichtigsten talks in deutschland wurde

Als Trainer wie hier 2015 im SC Paderborn hatte Stefan Effenberg weniger Glück. Als TV-Experte hingegen ist er sehr gefragt. Friso Gentsch / Keystone

Vielleicht wäre die Diskussion an diesem Sonntag hitziger, wenn die deutsche Nationalmannschaft zum Start der Heim-EM nicht 5:1 gewonnen, sondern verloren hätte. Frage an die Verantwortlichen der Sendung: Wäre mit Blick auf die Einschaltquote eine deutsche Niederlage besser gewesen, weil Zerfleischung und Voyeurismus dann noch stärker genährt worden wären?

Sie verneinen. Weil sie eher die Gefahr sehen, dass gerade die junge Generation die Lust am Nationalteam verliert, wenn für dieses die Endrunden wie immer seit 2018 ein Gewürge blieben, was wiederum auf das Interesse an Fussballthemen schlagen könnte. Eine Euphorie helfe da mehr.

Anzeichen für eine solche gibt es in Deutschland: Das Eröffnungsspiel gegen Schottland verfolgten im öffentlichrechtlichen Fernsehen gut 22,5 Millionen Zuschauer. An der WM 2022 in Katar, als das deutsche Team auf und neben dem Rasen für Irritationen sorgte, hatte die Partie gegen Japan nicht einmal die 10-Millionen-Grenze geknackt.

Live-Spiele von Endrunden sind auf Sport1 keine zu sehen. Der Spartensender konnte sich die TV-Rechte nie leisten. Deshalb musste er kreativ nach Alternativen suchen – wie eben dem «Doppelpass». In den Anfängen hiess der Sender DSF, und Insider sagen, er hätte es schwer gehabt, hätte er nicht den am Sonntagmittag zur Tradition gewordenen Fussball-Talk eingeführt.

Franz Beckenbauer sprach zunächst von einem «Kasperlsender»

Als geistiger Vater des «Doppelpasses» gilt der Medienmanager Kai Blasberg. Die Idee kam ihm, weil er sich sonntags mit seinem Opa im Schwarz-Weiss-Fernsehen den «Internationalen Frühschoppen» mit Werner Höfer anschauen musste, ein Format, bei dem Journalisten bei Wein und Zigarre über aktuelle Themen diskutierten. Blasberg dachte, das müsse doch auch mit Fussball funktionieren, ausgestrahlt zwischen Kirchengang und Sonntagsbraten. Es war Skepsis da, trotzdem erschien am 3. September 1995 der erste «Doppelpass». Zu den Redakteuren gehörte die Mutter von Mats Hummels, eine ehemalige Wasserballerin.

Schon bald war der «Doppelpass» aus Fussball-Deutschland nicht mehr wegzudenken. Weil er brisante Themen aufgriff und genüsslich ausweidete. Die Chefs des FC Bayern meinten zu Beginn, das Format ignorieren zu können, zu unbedeutend die TV-Anstalt, zu klein die Nische. Franz Beckenbauer habe von einem «Kasperlsender» gesprochen. Doch das Bild wandelte sich rasch, wie in einer Chronik zu lesen ist. Auch weil die Produzenten die Taktik verfolgten, die Bayern so lange zu provozieren, bis diese die Sendung so ernst nahmen, dass sie sich einmischen wollten. Als Uli Hoeness in der Talkrunde sass, war das ein Quantensprung.

Später liess sich Hoeness gerne spontan vom Aufnahmeleiter per Telefon in die Sendung durchstellen. Er benutzte den «Doppelpass» als Bühne, um Debatten zu befeuern. Zum Beispiel im Jahr 2000 bei der Frage, ob Christoph Daum aufgrund seiner Kokainaffäre als Bundestrainer tragbar sei. Seine Voten in diesem Fall führten dazu, dass es im Münchner Flughafen eine Sperrung gab, weil jemand mit einer Bombe an Hoeness’ Auto drohte. Legendär auch eine seiner Aussagen von 2002: «Solange Karl-Heinz Rummenigge und ich beim FC Bayern etwas zu sagen haben, wird Lothar Matthäus nicht einmal Greenkeeper im neuen Stadion.»

Noch prägender für die Sendung war Udo Lattek, der als Trainer acht deutsche Meistertitel gewann (acht mehr als Neururer). Kein anderer Experte war so präsent. Reiner Calmund, einst Manager von Bayer Leverkusen, sagte über Lattek: «Wenn der Udo auf der Strasse einen Haufen hinmacht, dann sagen die Leute: Guck mal, wie gut er da hingeschissen hat. Das qualmt sogar noch.» Ein Zitat von Lattek («Im Kölner Stadion ist immer so eine super Stimmung, da stört eigentlich nur die Mannschaft») wurde 2010 von der Deutschen Akademie für Fussballkultur zum Spruch des Jahres gekürt.

Zu seiner letzten «Doppelpass»-Sendung kam Lattek verspätet; sein Flugzeug hatte eine Reifenpanne. 2015 verstarb er. Ein Vermächtnis: Als er anno 2000 als Experte kurz aussetzte, um den BVB vor dem Abstieg zu retten, trug er auf der Trainerbank eine Kappe mit der Aufschrift DSF. Eine bessere Werbung gab es für den «Doppelpass»-Sender nie.

Nicht selten wurde es in den mehr als tausend Sendungen skurril. Etwa, als sich ein Vorsitzender des 1. FC Kaiserslautern völlig verhaspelte, und das hinterher damit erklärte, dass er Beta-Blocker geschluckt habe, um sich zu beruhigen, was sich mit anschliessendem Kaffeekonsum nicht vertragen habe. Oder als der Schauspieler Til Schweiger die Abschaffung der Abseits-Regel forderte, um den Fussball spektakulärer zu machen. Amateurteams erprobten den Vorschlag; das triste Spiel endete 1:0.

Aber was ist das Geheimnis des «Doppelpasses», dass die Gäste mit lockerer Zunge gern überspitzte Aussagen raushauen?

Bier statt Wein, Phrasenschwein statt Kollekte

Wenn man einen Macher der Sendung fragt, sagt er, dass es mit dem Ambiente im Foyer des «Hilton» zusammenhänge, wo jeden Sonntag ein Set aufgebaut wird: bequeme Sessel, echte Palmen (aus Kalifornien), in den Werbepausen kann man daneben an die Bar oder draussen eine rauchen. Das mache Lust auf eine gute Zeit, anders als in einem stickigen Studio.

Am vergangenen Sonntag wird zur Einstimmung «Major Tom» abgespielt, der offizielle Song der deutschen Nationalmannschaft, weil der Interpret in der Expertenrunde sitzt. Und die Zuschauer vor Ort singen mit: «Völlig losgelöst, von der Erde . . .» Die einen tragen Lederhosen, andere Trikots von Mario Balotelli oder des Turn- und Spielvereins 07 Oberlar, als befänden sie sich auf einem Junggesellenabschied. Im Ticket für 35 Euro ist ein Getränk inbegriffen, aber der Durst ist grösser. Man wähnt sich in einer Strandbar auf Mallorca.

Nach der Sendung strömen die Zuschauer zu Peter Neururer, um Selfies mit ihm zu machen. Hier sind die Groupies männlich, Stammtischliebhaber, sie haben Bierbauch und schütteres Haar – und die erste Halbzeit ihres Lebens hinter sich. Um jüngeres Publikum abzuholen, lässt die junge Co-Moderatorin während der Sendung einfliessen, was gerade so in den sozialen Netzwerken abgeht.

Zu Spitzenzeiten zählte der «Doppelpass» in der letzten Bundesliga-Saison 940 000 Live-Zuschauer. Ein Verantwortlicher der Sendung fasst es so zusammen: «Wir sind der Gottesdienst der Fussballfans.» Nur scheinen hier die Hohepriester für ihr Publikum greifbarer. Der Moderator Jochen Stutzky ist mit seiner Geistesgegenwart das Gegenmodell zu einem Pfarrer, der krampfhaft nach Bibelversen sucht.

Und in dieser Messe lautet das Motto: Bier statt Wein, Phrasenschwein statt Kollekte. Ins Phrasenschwein (der Begriff steht im Duden) muss drei Euro werfen, wer zu sehr laviert oder mit Plattitüden langweilt. Das Geld kommt wohltätigen Projekten zugute, pro Saison kommt ein tiefer fünfstelliger Betrag zusammen.

Eher selten haben Schweizer Gäste Spuren im «Doppelpass» hinterlassen. In der Chronik wird neben Sepp Blatter vor allem ein Name genannt: DJ Bobo. Aber es zeichnet sich Morgenröte am Horizont ab: Nächsten Sonntag tritt Ciriaco Sforza auf, einst Fussballgott auf Kaiserslautern.

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