Noch immer gibt es neue Velos zuhauf. Die hohen Lagerbestände machen Händlern und Herstellern schwer zu schaffen
Veloläden sind in den letzten Jahren auch in Zürich wie Pilze aus dem Boden geschossen. Aber das Geschäft ist vielerorts ins Stocken geraten. Christoph Ruckstuhl / NZZ
In der Fahrradbranche herrscht noch immer Katerstimmung. Händler, die sich durch den Absatzboom während der Pandemie blenden liessen und viel zu viele Velos und E-Bikes orderten, sitzen weiterhin auf grossen Lagerbeständen.
Im vergangenen Jahr brach der Absatz von Velos und E-Bikes in der Schweiz um fast einen Fünftel auf unter 400 000 Stück ein. Von 2021 bis 2023 hatte die Branche jeweils ungefähr eine halbe Million Zweiräder verkauft.
Wer sich in den vergangenen Jahren kein neues Velo oder E-Bike gegönnt hat, kann nun beim Kauf von hohen Rabatten profitieren. Zwar spricht die Branche verständlicherweise nicht gerne darüber, aber der Preisdruck, dem sich Hersteller und Händler ausgesetzt sehen, ist enorm.
«Massiver Druck auf die Verkaufspreise»
Laut dem österreichischen Fahrradproduzenten Pierer Mobility, dessen Aktien an der SIX Swiss Exchange gehandelt werden, führte die branchenweite Überhitzung zu Höchstständen sowohl bei den eigenen Beständen als auch aufseiten der Händler. Die Rückführung auf ein Normalniveau sei noch nicht abgeschlossen, konstatiert das Unternehmen. Zugleich gebe es «massiven Druck auf die Verkaufspreise».
Bei Pierer Mobility reisst die Marktbereinigung tiefe Löcher in die Ertragsrechnung. Das Unternehmen sah sich am Montag gezwungen, bereits zum zweiten Mal innerhalb eines halben Jahres eine Gewinnwarnung zu publizieren. Das Fahrradgeschäft dürfte 2024 auf Stufe Betriebsergebnis (Ebit) mit einem Verlust von 110 bis 130 Millionen Euro abschliessen. Wegen der Preisabschläge rechnet Pierer Mobility mit kostspieligen Abschreibungen auf bereits hergestellten Zweirädern.
Deutlich besser hat sich der Motorradmarkt gehalten. In der Schweiz wurden auch im vergangenen Jahr erneut fast 50 000 Motorräder verkauft. Trotz der nassen Witterung erfreulich gestartet ist das diesjährige Geschäft. So wurden laut dem Branchenverband Motosuisse in den ersten fünf Monaten 6 Prozent mehr neue Motorräder immatrikuliert als im selben Zeitraum des vergangenen Jahres.
Ähnlich robust entwickelten sich andere europäische Absatzmärkte. Die Kaufkraft bei Motorradfahrern in Europa sei intakt, sagte Stefan Pierer, der Konzernchef und Hauptaktionär von Pierer Mobility, an einer Telefonkonferenz. Hinzu komme, dass viele über 50-Jährige, die als Abnehmer zunehmend wichtig würden, beeindruckend fit seien.
Negatives Betriebsergebnis erwartet
Der Wiener Konzern, der sich neben KTM, Husqvarna und Gasgas mit dem italienischen Hersteller MV Agusta jüngst eine vierte Marke einverleibt hat, erwartet im Motorradbereich 2024 ein ausgeglichenes bis leicht positives Betriebsergebnis. Verglichen mit den bisherigen Erwartungen ist das allerdings wenig. Es wird bei weitem nicht ausreichen, um den prognostizierten hohen Verlust im Fahrradgeschäft auszugleichen.
Im vergangenen Dezember, bei der ersten Gewinnwarnung, hatte das Unternehmen die erwartete gruppenweite Ebit-Marge für 2024 bereits von 8 bis 10 auf 5 bis 7 Prozent zurückgenommen. Nun dürfte das Betriebsergebnis deutlich negativ ausfallen.
Analysten der Bank Vontobel bezeichneten die jüngste Gewinnwarnung als «deftig». An der Börse fiel die Reaktion der Anleger geharnischt aus. Der Aktienkurs von Pierer Mobility stürzte am Montag um 19,4 Prozent auf 26.85 Franken ab. Gegenüber Anfang Jahr beläuft sich der Wertverlust auf über 40 Prozent.
Pierer beteuerte, das Unternehmen wieder auf Kurs zu bringen. Die Umsetzung des angestrebten Turnarounds dürfte sich indes bis weit in das kommende Jahr hineinziehen. Das Unternehmen hat nicht nur zu viele Velos hergestellt, sondern auch Motorräder im Übermass produziert.
Probleme mit Nachwuchskräften
Besonders Händler in den USA bekunden Mühe, ihre Lager zu leeren. Die stark gestiegenen Zinsen setzen ihnen und ihren Kunden bei Finanzierungsgeschäften gleichermassen zu. Ausserordentlich schwach entwickelte sich jüngst auch der Motorradmarkt in China. Laut dem Firmenchef Pierer schrumpfte der dortige branchenweite Absatz in den ersten fünf Monaten dieses Jahres um 40 Prozent. Das Unternehmen sieht sich gezwungen, Motorradhändlern neben Preisabschlägen auch deutlich verlängerte Zahlungsfristen zu gewähren.
Dazu belasten strukturelle Probleme des Industriestandorts Europa die Profitabilität von Pierer Mobility. Der Patron nahm bei der Aufzählung der mannigfaltigen Herausforderungen kein Blatt vor den Mund. Ein riesiges Problem für die gesamte Industrie in Mitteleuropa seien die stark gestiegenen Energiepreise. Doch nicht nur das: Wegen der vielen Pensionierungen gingen Industriefirmen zunehmend die Arbeitskräfte verloren. Und bei den wenigen Nachwuchskräften, die nachrückten, gebe es nicht selten Probleme mit der Arbeitseinstellung.
Abbau von 900 Stellen vorab in Österreich
Das starke Wachstum der vergangenen Jahre veranlasste Pierer Mobility, die Belegschaft vorab in Österreich deutlich auszubauen. Man habe sich personalmässig in den letzten zehn Jahren verdoppelt, sagte Pierer. Ende 2023 waren beim Unternehmen fast 6200 Mitarbeiter beschäftigt, 5200 von ihnen in Österreich. Nun sollen aber bis Ende Jahr 900 Stellen aufgehoben werden, was 15 Prozent des gesamten Personalbestands entspricht. Der Grossteil des Abbaus ist in Österreich vorgesehen.
Pierer Mobility will bei der Montage günstigerer Motorräder verstärkt auf Asien setzen. Auch Komponenten sollen vermehrt in Fernost beschafft werden. Noch gibt es in Europa viele Zulieferer der Fahrrad- und Motorradindustrie. Wegen der stark gestiegenen Energie- und Lohnkosten sind aber offenbar manche nicht mehr wettbewerbsfähig und zum Aufgeben gezwungen.
Stefan Pierer rechnete vor, dass beim Produktionspartner CF Moto im chinesischen Hangzhou pro Jahr 2540 Arbeitsstunden geleistet würden. In Österreich seien es lediglich 1650. Zudem koste die Arbeit in China noch immer nur halb so viel wie in Europa.
Wann endet die Rabattschlacht?
Die Montage von Velos und E-Bikes will Pierer Mobility hingegen in Europa belassen. Dabei plant der Konzern, sich auf das obere Preissegment zu konzentrieren. Man verfüge in Bulgarien über einen Partner, der zu konkurrenzfähigen Kosten bis zu 50 000 Fahrräder pro Jahr produzieren könne, sagte Pierer. «Wir brauchen nicht wie Anbieter aus Fernost Kapazitäten für die Herstellung Hunderttausender Fahrräder.»
Und wie lange muss sich das Unternehmen noch an der Rabattschlacht in der Velobranche beteiligen? Der Abbau der Lagerbestände werde wohl noch zwölf weitere Monate dauern. «Aber», sprach sich der Unternehmenschef Mut zu, «in einigen Segmenten bessert sich die Situation bereits. Die Rabatte werden sich zurückbilden.»