Bleibt Michel Aebischer Murat Yakins Mann für Spezialaufträge?
«Ich habe die Szene zwei oder drei Mal angeschaut, dann war es auch wieder gut»: ;Michel Aebischer zu seinem Tor gegen Ungarn. Peter Klaunzer / Keystone
Wer ist Michel Aebischer? Als grosse Überraschung steht der Name Aebischer am Samstag auf Murat Yakins Matchblatt gegen Ungarn, er soll auf der linken Seite spielen statt im Zentrum wie in seinem Klub Bologna oder früher bei den Young Boys. Dann schiesst dieser Aebischer im EM-Startspiel das zweite Tor und bereitet das erste vor – wer auf diese Statistik einen Fünfliber gesetzt hätte, wäre reich geworden.
«Ich habe die Szenen zwei oder drei Mal angeschaut», sagt Aebischer, «dann war es aber auch wieder gut.» Aebischer hat sich auf das kleine Podest im Stadiontrakt der Stuttgarter Kickers gesetzt, wo die Schweizer täglich einen Spieler zum Frage-Antwort-Ritus abstellen. Draussen wird gerade mit schwerem Gerät der Rasen eingerollt, damit ein neuer ausgelegt werden kann. Die Schweizer weichen auf einen Platz des VfB Stuttgart aus. Für Aebischer kein Grund zu Aufregung, «Hauptsache, wir dürfen auf einem guten Rasen trainieren», sagt Aebischer.
Der Mediensprecher hat die Fragerunde bereits eröffnet, die er jeweils mit ein paar launigen Worten zum Protagonisten der Veranstaltung einzuleiten pflegt. Vor dem Match am Mittwoch gegen Schottland hat er er das auf Englisch gemacht mit dem Hinweis, dass Aebischer ausgezeichnet Englisch spreche, neben allen Landessprachen. «Nur Romanisch müsste ich noch lernen», merkt Aebischer an.
Auf die Frage, ob Übersetzer eine Option für die Berufswahl hätte sein können, sagt er: «Das wäre eine Idee, das Sprachenlernen fällt mir leicht.» Aber Aebischer ist nicht Übersetzer geworden, sondern Fussballer. Die Fussballsprache funktioniert anders, als innert Sekunden von Englisch auf Hochdeutsch, von Französisch auf Italienisch zu wechseln und erst noch die Frage zu verstehen, die der Reporter aus Glasgow auf Scots stellt. Fussballsprache kann man weder lesen noch hören oder sprechen. Sie ist komplizierter.
Ein Spieler mit grosser Intelligenz
Am Dienstag habe ihn der Trainer zum ersten Mal in seine Pläne eingeweiht. «Mit dem Ball soll ich mich eher ins Zentrum bewegen, ohne Ball eher nach aussen auf der Seitenlinie in der Nähe von Ricardo Rodriguez», sagt Aebischer. Das klingt einfach, ist aber in der Umsetzung auf dem Platz eine anspruchsvolle Aufgabe. Um sie zu erfüllen, muss der Spieler fähig sein, den gewohnten Blick aufs Spiel zu wechseln, die Laufwege zu ändern und die Orientierung im Raum anzupassen. Das verlangt Intelligenz, Fussball-Intelligenz.
Es ist eine Eigenschaft, die Aebischer schon vor neun Jahren attestiert wurde, als er vom FC Fribourg in die U 17 der Young Boys wechselte. In Bern machte er Schritt für Schritt, bis der 27-Jährige im September 2016 für eine erste Minute gegen Luzern in der Super League debütierte. Es war die Mannschaft mit Guillaume Hoarau, Miralem Sulejmani, Steve von Bergen. Aebischer musste lernen, seinen Platz zu finden, sein Profil zu schärfen, Persönlichkeit zu entwickeln. Dazu gab es viele Gespräche mit YB-Verantwortlichen. Als Aebischer vor zweieinhalb Jahren für dreieinhalb Millionen Franken zuerst als Leihspieler und dann fix nach Bologna wechselt, ist er vierfacher Meister. Aber die Frage bleibt: Wer ist Michel Aebischer?
Man würde ihn wahrscheinlich kaum erkennen auf der Strasse oder auf einem Bahnhof, er scheint keine privaten Beziehungen zu Haar-Stylisten und Tattoostechern zu pflegen. Und käme man wie bei anderen Nationalspielern auf die Idee, ihn nach seinem Auto oder seinen Wohnverhältnissen zu fragen, bekäme man als Antwort statt «Lamborghini» und «Roof-top-Loft» wahrscheinlich eher «Vierzimmerwohnung» und «VW Golf». Bodenständigkeit und die Kraft des Durchschnittlichen zeichnen ihn aus. Das zeigt auch sein Weg als Fussballer.
Wichtig für jede Mannschaft
In den Anfangszeiten bei YB spielte Aebischer auch mit dem gleichaltrigen Denis Zakaria und dem zwei Jahre älteren Kevin Mbabu. Zakaria wechselte mit lauten Fanfaren zu Borussia Mönchengladbach, ein Box-to-Box-Spieler, präsent in beiden Strafräumen und Chef im Mittelfeld. Mbabu ging in die Bundesliga zu Wolfsburg als Aussenverteidiger, der mit Risiko und mit viel Tempo den gegnerischen Strafraum sucht. Und Aebischer? Nicht besonders schnell, kein Trickser, kein Rudelführer, keine Extrafähigkeiten. Aber von allem genug, um für jede Mannschaft wichtig zu sein. «L’ Equilibratore» nennen sie ihn in Italien – den «Ausgleicher», den Mann mit dem Gespür für die Balance.
Murat Yakin hatte sich ja gegen die Ansicht gewehrt, dass er seine Aufstellung am Pokertisch gemacht habe; Schach sei sein Spiel. So hat Yakin wohl in nächtlichen Taktik-Séancen stundenlang auf seine Figuren gestarrt, bis er plötzlich die Idee hatte, aus einem kommunen Bauern ein extravagantes Pferd zu machen: Aus einem eher unscheinbaren Mitläufer die Figur für die unberechenbaren Züge. Mit wem kann man dieses Risiko eingehen, wer kann das? Mit Aebischer, der kann das.
Mit Blick auf den Mittwoch hofft Aebischer natürlich, sich mit seiner Leistung für die Startaufstellung gegen Schottland empfohlen zu haben. Gleichzeitig würde es ihm aber auch nichts ausmachen, auf der Bank Platz zu nehmen und sich vom Pferd wieder in einen Bauern zurückzuverwandeln. Er sagt: «Die Mannschaft ist das Wichtigste, wenn wir weiterwachsen als Team, ist sehr viel möglich an diesem Turnier.»