Eine Afghanin nutzt den Fussball als Werkzeug gegen die Unterdrückung. Sie riskiert ihr Leben damit
Die Gruppe junger Frauen in Sportkleidern schwatzt, lacht, wartet auf den nächsten Programmpunkt. Bald starten sie ihren Lauf entlang der Limmat durch Zürich. Man könnte meinen, die Frauen seien ein normales Nachwuchs-Fussballteam in einem Trainingslager in der Schweiz.
Das sind sie nicht. Vor nicht einmal drei Jahren verbrannten diese jungen Frauen die eigenen Trikots – sie waren Afghanistans Juniorinnen-Nationalteam. Damals vergruben sie ihre Medaillen und Trophäen im Boden von Kabul. Sie fürchteten um ihr Leben, hatten Angst, dass sie als fussballspielende Mädchen identifiziert würden. Als die Taliban im August 2021 die Macht in Afghanistan übernahmen, war die Ausgangslage für die Sportlerinnen klar: Entweder sie schaffen es, das Land zu verlassen, oder sie werden umgebracht, vergewaltigt oder mit einem Verbündeten der Taliban verheiratet.
Khalida Popal beobachtet die jungen Frauen. «Kaum zu glauben, dass es dasselbe Team ist», sagt die 37-Jährige. «Der Fussball hat den Mädchen eine Gemeinschaft und Hoffnung, eine Art von Glück gegeben. Das liebe ich an ihm.» Popal ist das Gesicht des afghanischen Frauenfussballs. Sie hat ihn in ihren Teenagerjahren heimlich aufgebaut, bis er vom afghanischen Fussballverband anerkannt wurde, und nach einem überlebten Mordanschlag jahrelang aus dem Exil in Dänemark weiter vorangetrieben und organisiert.
«Wenn ich mit dem Spielen aufhöre, gewinnen die Taliban»
In den vergangenen drei Jahren, seit die Taliban wieder regieren, hat Popal mit ihrem Netzwerk die Evakuation von über 500 Fussballerinnen und ihren Familien aus dem Land organisiert. So auch die des Juniorinnen-Teams, das eine «Albtraum-Flucht» über Pakistan nach Grossbritannien wagte. Zu diesem Team zählt etwa eine minderjährige Spielerin, die sich nicht mehr von ihrer Mutter verabschieden konnte. Oder eine, deren Eltern von den Taliban getötet wurden und die dennoch am nächsten Tag wieder spielte. Sie sagte sich: «Wenn ich mit dem Spielen aufhöre, gewinnen die Taliban. Der Fussball ist mein Schlachtfeld.»
Nun sitzt Khalida Popal in Zürich, die «Coubertin meets Dunant Foundation» hat sie und das afghanische Nachwuchsteam eingeladen. Für ein Trainingslager, ein Benefizspiel, aber auch für Talk-Runden und Interviews. Popal spricht nachdrücklich und energisch, dabei sei sie zurzeit vor allem erleichtert. Vor wenigen Wochen ist ihr Buch «My Beautiful Sisters» erschienen, und nun weiss sie: Ihre Botschaft ist da draussen, gedruckt, die Geschichte ist erzählt, auch für den Fall, dass ihr etwas zustossen sollte.
Sie erhält weiterhin massive Drohungen, obwohl sie nicht mehr in Afghanistan wohnt. Schon seit Jahren lebt sie mit dem Hass der Männer, die nicht wollen, dass eine Frau ihre Stimme erhebt. «Ich bin müde. Aber ich fühle mich verantwortlich, spüre die Ungerechtigkeit. Ich habe schon so viel dafür geopfert. Und deswegen mache ich weiter.»
Popal fühlte sich immer privilegiert. Sie kommt aus einer gebildeten Familie, in der die Männer die Frauen als gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft betrachten. Bereits ihr Grossvater ermutigte Khalida, sie selbst zu sein, er sagte ihr, dass sie auf der Welt etwas verändern könne. Wegen ihrer Haltung wurden ihr Vater und die Brüder in der Gesellschaft beschimpft. Sie zwangen Khalida Popal nicht zu einer Heirat oder dazu, mit dem Sport aufzuhören, «das ist ziemlich einzigartig in Afghanistan». Bereits als Kind hatte sie mit ihren Brüdern Fussball gespielt. Während der ersten Machtübernahme der Taliban 1996 bis 2001 war der Sport Popals einzige Freude im Flüchtlingslager in Pakistan.
Die Männer stachen auf den Fussball ein, um den Mädchen zu drohen
Als die Familie zurück nach Kabul kam, begann Khalida Popal, mit einem Ball über den Schulhausplatz zu dribbeln. Sie überzeugte weitere Mädchen zum Mitmachen, bis ein kleines Team entstand, das um 5 oder 6 Uhr jeweils vor der Schule zusammen spielte. Hinter den Mauern der Schule fühlten sich die jungen Frauen sicher. Doch Fussball ist kein stiller Sport. Das Aufprallen der Bälle an der Wand, der Jubel, die frustrierten Ausrufe – diese Geräusche erweckten Aufmerksamkeit.
Eines Tages kletterten Männer über die Mauer. Sie schlugen den Mädchen mit einem Schal ins Gesicht, leerten ihre Rucksäcke mit den Schulsachen aus, zerstörten die behelfsmässig gebauten Tore, beschimpften sie als Huren. Zum Schluss zückte einer der Männer ein Messer und stach mehrmals auf den Fussball der Mädchen ein.
Das sei wie die Show eines Zauberers gewesen, schreibt Popal in ihrem Buch, aber auch eine sehr reale Drohung. «Die Attacke zeigte mir, wie mächtig der Fussball sein kann. Er war mehr als ein Spiel. Wir konnten ihn als Werkzeug benutzen, um uns gegen die Rollen aufzulehnen, die sie für unser Geschlecht vorgesehen hatten.»
Denn der Sport hat bei Popal und ihren Mitstreiterinnen «die Persönlichkeit verändert», wie sie sagt. «Wir haben durch ihn unsere Stimme gefunden.» Wie das? Die Mädchen übernahmen im Team zum ersten Mal in ihrem Leben eine aktive Rolle, sei es als Stürmerin oder als Goalie. Sie kämpften und standen für eine Position, nachdem ihnen ihr Leben lang gesagt worden war, dass ein Mädchen fügsam sein müsse, ausserhalb der Küche keinen Wert habe. Die mit dem Fussball gewachsenen neuen Gefühle liessen sich nicht mehr einfach so ersticken. Der erste Pass zu einem selbstbestimmteren Leben war gespielt.
Durch Popals Initiative entstanden Highschool-Teams. Ein paar Jahre später akzeptierte der afghanische Fussballverband ihr Team als Frauen-Nationalteam. Sie mussten sich allerdings weiterhin verstecken, trainierten etwa in einer Nato-Basis. 2011 war Popal die Finanz- und Frauenfussball-Chefin im Verband. In dieser Funktion kritisierte sie im Fernsehen die mangelnde Unterstützung für das Frauenteam und machte korrupte Sportfunktionäre dafür verantwortlich. Wenige Tage später wurde ihr Auto gerammt und auf sie geschossen. Popal entkam im Verkehrschaos von Kabul, doch die Bedrohung für die Familie wurde zu gross. Nach einem Haftbefehl gegen sie floh Khalida Popal schliesslich aus dem Land.
Ihre abenteuerliche Flucht endete in einem Flüchtlingslager in Dänemark. Dort fiel sie in eine Depression, war mutlos, permanent von Angst geplagt. Sie nahm Medikamente und machte eine Therapie. Als es ihr wieder besserging, kämpfte sie aus dem Exil weiter für den afghanischen Frauenfussball und organisierte Turniere.
Das ;afghanische Frauen-Fussball-Nationalteam hat in Australien Unterschlupf gefunden. Für ihr Engagement hat Popal schon diverse Preise erhalten. Kelly Defina / Getty
Das Nationalteam darf nicht an internationalen Turnieren teilnehmen
Während die Juniorinnen in England aufgenommen wurden, lebt das Frauen-Nationalteam heute in Australien. Internationale Turniere dürfen die Frauen aber nicht absolvieren. Weil die Taliban die Kontrolle über den afghanischen Fussballverband übernommen haben und die Frauen im Land keinen Sport mehr treiben dürfen, existiert auch das Frauen-Nationalteam offiziell nicht mehr. Der Weltfussballverband (Fifa) stellt sich auf den Standpunkt, dass er ein Nationalteam erst anerkennen darf, wenn dies der nationale Verband getan hat. Im Fall von Afghanistan werde die Situation intensiv beobachtet.
«Das macht mich krank», sagt Popal. «Die Taliban beobachten? Mit welcher Hoffnung? Dass die ihre Meinung ändern und die Fifa dann mit den Taliban zusammenarbeiten kann?» Popal kämpft dafür, dass die afghanischen Fussballerinnen eine temporäre, alternative Organisation gründen dürfen, die von der Fifa anerkannt wird.
Wie das gehen könnte, machte diesen Juni das Internationale Olympische Komitee (IOK) vor. An den Sommerspielen in Paris wird ein Team aus drei afghanischen Männern und drei Frauen an den Start gehen, die im Exil leben. Funktionäre der Taliban dürfen sich nicht akkreditieren. «Es ist ein Baby-Schritt, aber ein wichtiger», sagt Popal. Dass die Delegation unter der Landesflagge dort stehen wird, sei ein Zeichen an die Taliban: «Wir wollen nicht mit euch arbeiten, aber wir anerkennen den Traum dieser Athleten.»
Seit der Machtübernahme der Taliban dürfen Frauen das Haus in Afghanistan nicht mehr ohne Begleitung eines Mannes verlassen, nach der Grundschule keine weiteren Bildungsangebote besuchen. Mit ihrer Organisation «Girl Power», die Sportaktivitäten für Mädchen organisiert, ist Khalida Popal im eigenen Land zurzeit machtlos. Oder jedenfalls fast. Denn die Afghaninnen haben immer noch Zugang zum Internet, nutzen online Lernangebote oder machen Home-Trainings. Popal organisiert virtuelle Workshops, in denen die Mädchen ihre Meinung sagen können. «So fühlen sie, dass sie gehört werden», sagt Popal. Es ist nur ein kleiner Schritt. «Aber ich ziehe meine Kraft daraus, dass solche kleinen Schritte etwas bewirken können.»