Neu Eingebürgerte geht mit ihrer Meinung über die Schweiz viral
Die Britin Jenny Chase listet die Pros und Cons ihrer neuen Heimat auf: beispielsweise den ÖV und die Kinderfreundlichkeit oder den schlechten Käse und die eigennützige Neutralität. Dafür erntet sie heftige Reaktionen.
Endlich abstimmen: Dieses Bild teilte Jenny Chase auf der Plattform X.
Das Foto zeigt zwei Entenküken, die am aktuellen Abstimmungsbüchlein picken, auf der Seite «Volksinitiative Prämien-Entlastungs-Initiative». Als Überschrift dazu schreibt die gebürtige Britin Jenny Chase: «Meine Familie wurde nach einem vierjährigen Bewerbungsprozess endlich in der Schweiz eingebürgert.» Es ist ihre erste Volksabstimmung. Und die Wahlsolothurnerin der 2000-Seelen-Gemeinde Fulenbach kündigt einen Thread an, in dem sie jetzt mal ehrlich erzählt, was sie von ihrer neuen Heimat hält.
Über 15 Millionen Mal wurde der Post bis jetzt angezeigt, und auch der 15-teilige Thread zum Thema knackt die Millionengrenze. Er löste zahlreiche Reaktionen aus, von begeisterter Zustimmung bis zu scharfer Kritik.
Jenny Chase steigt mit munteren Bemerkungen über den hiesigen schlechten Käse – der britische sei unvergleichlich viel besser – und die entsetzliche Tee-Unkultur ein und mit ihrem Grund für den Umzug im Jahr 2010: die Liebe zu einem ortsgebundenen Novartis-Angestellten.
Sie selbst, gefeiert als «Solar-Orakel» und Autorin von «Solar Power Finance Without The Jargon», ist ortsunabhängig: Seit dem Studienabschluss an der Universität Cambridge ist sie in einer New-Energy-Finance-Firma als Topanalystin des Solarpanelmarkts tätig, und ihre Lust an Listen lässt sie auch in ihrer Schweiz-Beurteilung spielen.
Schweizer Braindrain und eigennützige Neutralität
Zwei «schlechten Dingen» in der Schweiz stellt Chase sechs «gute» und drei «seltsame» gegenüber. Schlecht sei etwa, dass die niedrigen Steuern und die hohen Löhne die Talente der umliegenden Länder abzögen, Stichwort Braindrain. Dieser habe das arme Land in knapp hundert Jahren zu einem sehr reichen gemacht.
Klar, dass die Internetcommunity die Züchterin von West-of-England-Gänsen für ihren Käsegeschmack humorvoll aufzieht und bisweilen auch wütend angreift. Man solle ihr den Schweizer Pass sofort wieder entziehen, wird in etlichen Posts gefordert, und das nicht nur im Scherz. Dass Chase die niedrigen Steuern als Minuspunkt wertet, wird von vielen nicht verstanden – was teils freilich auch an ihrer Begründung liegen mag. So erklärt ihr eine Kritikerin: «Die Schweiz wurde reich durch das Raubgold, eine wirklich dunkle Geschichte umgibt dieses Land.»
Jenny Chase mit einer ihrer West-of-England-Gänse.
Die Neutralität der Schweiz wiederum nennt Chase trocken «eigennützig». Während manche Kommentatoren sich ereifern, dass doch jede Aussenpolitik eigennützig sei oder es zumindest sein solle, unterstreichen andere, die Neutralität sei fake, eine Fantasie, ein unverhofft im Lauf der Geschichte erhaltenes Mäntelchen, das unter anderem genutzt werde, um mit verbrecherischen Potentaten Geschäfte zu machen.
«Die Schweizer sind Experten darin, vom Leiden zu profitieren, während sie so tun, als seien sie völlig frei von Schuld», schaltet sich ein User in die Diskussion ein. Ein anderer resümiert bezüglich der Schweiz: «Wird nicht überleben. Schlechtes Karma.»
Die Schweizer: Pragmatisch und kompetent
Zu den Pluspunkten der Schweiz zählt Jenny Chase die Infrastruktur wie den ÖV, die Kinderfreundlichkeit – sie hat hier selbst ein Kind bekommen und lobt, dass Kindergärtler selbstständig unterwegs seien – und die hohen Strafen für Temposünder. Sie schätzt den pragmatischen Approach beim Problemlösen – ihr augenzwinkerndes Beispiel: Der Nationalheld hat den Unterdrücker einfach erschossen statt lange rumzumachen wie Robin Hood.
Toll findet Chase die direkte Demokratie und die Gemeinwohlorientierung der Bevölkerung, die unaufgeregte Kompetenz und das bescheidene Auftreten – leider sei dieses teils gekoppelt mit einer Tendenz zur Konformität und latenter Aggression gegen Leistungseliten. Ein eingebürgerter Inder widerspricht ihr: Kompetenz und Gemeinwohlorientierung fehlten hierzulande, während kompetente People of Color oft ausgeschlossen würden oder gar als Sündenböcke herhalten müssten. Ein Westschweizer wiederum bezeichnet das Land als Paradies für die Reichen, die Demokratie als Mythos.
Auch die von Chase gepriesene Kinderfreundlichkeit wird angezweifelt, etwa wegen der knappen Elternzeit, der schlechten Vereinbarkeit von Familie und Arbeit und der Schwierigkeiten, die man wegen Kinderlärm bekommen kann. Eine Expat, die die Schweiz mittlerweile verlassen hat, schreibt: «In keinem anderen Land habe ich so viel Hass auf Kinder erlebt.» Ein Weiterer sekundiert, die Schweiz sei schön für kleine Kinder, aber für grössere weniger. Die teuren Krankenkassenprämien geraten gleichfalls in den Blick.
Der Kundenservice hat Luft nach oben
Als Kuriositäten listet die frischgebackene Solothurnerin die schwere Outdoorbekleidung, die ältere Schweizer im Frühling gegenüber leicht-luftigen Outfits bevorzugten, oder den unfreundlichen Kundenservice gegenüber Fremden. Dafür begegne man einheimischen Stammkunden mit ausgesuchter Hilfsbereitschaft.
Kurz, die Neubürgerin zeichnet ein differenziertes, schillernd-wohlwollendes Bild ihrer Wahlheimat – und manche sind davon schwer getriggert, während andere sich bei ihr bedanken. Willkommen in der Schweiz!
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