«Es läuft ein Kampf um die Köpfe» – Frankreichs Linke mobilisiert gegen rechts
Hunderttausende gingen auf die Strasse, in fast 200 Städten: Frankreichs Linke sieht in einer Volksfront ihre einzige Chance, Marine Le Pens Durchmarsch an die Macht zu stoppen. Eine Reportage aus Paris.
Für einmal alle zusammen: Frankreichs Linke versammelt sich auf der Place de la République.
Es riecht nach Merguez, der scharfen Wurst, und das war schon immer ein guter Melder für die Revolution. Place de la République, ein kalter Pariser Junitag, windig, gleich wird es auch noch ein bisschen nieseln. Doch wen kümmert das Wetter, wenn das Land wankt und Düsternis droht. Fast niemand hat einen Schirm dabei.
Vor dem Ausgang der Metrostation République steht ein Mann mit hellblauem Béret, seine linke Hand steckt in der Hosentasche, mit der rechten drückt er sich einen Karton gegen die Brust: «Non au Racisme», hat er darauf geschrieben. Er empfängt damit wortlos all die Menschen, es werden am Ende Zehntausende sein, die es aus dem Untergrund auf den grossen Platz schwemmt, hier kreuzen sich die Linien 3, 5, 8, 9 und 11. Der Rauch von den Grillständen umspielt den Mann mit dem Béret, der Geruch von Merguez und gebratenen Zwiebeln. 3,50 Euro kostet das Sandwich, ein Volksfestpreis.
Macrons halber Coup
Fünf französische Gewerkschaften haben zu dieser grossen «Manif», zu dieser Kundgebung gegen die extreme Rechte, aufgerufen, in aller Eile, es ist ja auch keine Zeit mehr. In zwei Wochen wählt Frankreich ein neues Parlament, weil Präsident Emmanuel Macron nach der verlorenen Europawahl ganz ohne Not fand, dass das jetzt das Richtige sei. Er hielt das wohl für einen Coup, alle wollte er überraschen. Doch wahrscheinlich hat er sich kolossal verrechnet.
Nie war die Wahrscheinlichkeit grösser, dass die extreme Rechte von Marine Le Pen, die sich heute Rassemblement National nennt und sich für die Galerie etwas moderater gibt, die Wahlen gewinnt und an die Macht kommt. Erstmals in der französischen Geschichte.
Und diese Aussicht hat das vielfältige Volk der Linken, das sich sonst gerne selbst zerfrisst, mobilisiert und geeint. Überall im Land treibt es sie an diesem Wochenende auf die Strasse, nicht nur in Paris: in fast zweihundert französischen Städten. Aber Paris ist Paris, und es ist laut.
«Wir erleben einen präapokalyptischen Moment»
Auf dem Wagen des Gewerkschaftsbunds CGT, der später im ganzen Tross losfährt Richtung Place de la Nation, stehen zwei Rapper, eine Frau und ein Mann, sie singen sich an. Sie: «Die extreme Rechte . . .» Er: «hat, bei uns . . .» Sie wieder: «vierzig Prozent.» Immer und immer wieder, sie hämmern es den Leuten in die Köpfe, niemand soll sagen können, dass er es nicht wusste.
Vierzig Prozent – das ist ungefähr die Summe der Stimmen, die alle französischen Parteien am rechten Rand bei den Europawahlen erreicht haben. Die Lepenisten allein brachten es auf 31,4 Prozent.
Der spontane Zeichner, alles auf eigene Kosten: Der bekannte Streetartist Dugudus, bürgerlich Régis Léger, hat der Volksfront auch ein grafisches Gesicht gegeben.
«Wir erleben einen präapokalyptischen Moment», sagt Dugudus, der eigentlich Régis Léger heisst, den aber alle nur unter seinem Künstlernamen kennen, er ist Streetartist und Zeichner, 37 Jahre alt. «Wenn wir uns jetzt nicht bewegen, dann erwartet uns die Hölle.» Nur dann. Die Manif soll die Hoffnung nähren.
Dugudus steht an seinem Stand am Boulevard du Temple, es ist einer der populärsten an dieser Demo: Es gibt da bunte Plakate vom Nouveau Front Populaire, dem Zusammenschluss von vier linken Parteien für die Wahlen, die er auf eigene Kosten drucken liess. Man kann geben, was man will. Dugudus hat das Logo gezeichnet, das nun viele Initiativen des Nouveau Front Populaire illustriert, ganz in seinem üblichen Stil, fröhlich und dringlich.
Sein Plakat ging schnell viral
Man sieht darauf viel Volk, gekleidet in hellroten und dunkelroten Farbtönen, auch in Rosa, die ganze Palette. Jede Farbe steht für eine Partei des Bündnisses: die linksextreme France Insoumise, die Sozialdemokraten vom Parti Socialiste, die Kommunisten – nur das Grün der Grünen fehlt, aber die sind natürlich mitgemeint.
Dugudus hatte keinen offiziellen Auftrag für diese Arbeit. Er setzte sich einfach hin und zeichnete, nachdem François Ruffin, eine führende Persönlichkeit der France Insoumise, am Abend nach der Europawahl die Bildung eines Front Populaire gefordert hatte. Das Plakat ging schnell viral.
«Es läuft nicht nur eine ideologische Schlacht», sagt der Künstler. «Es läuft auch ein grafischer, visueller Kampf um die Köpfe – in diesem Land war der immer schon sehr wichtig.» Er wolle ein bisschen etwas beitragen zum «revolutionären Wandel». Und es soll fröhlich wirken. Dugudus hat auch eine Marianne mit der olympischen Flamme gezeichnet: Sie läuft für den Front Populaire in den französischen Nationalfarben. Im Sommer finden in Paris die Olympischen Spiele statt.
Ein moderner Léon Blum? Frankreichs früherer Präsident François Hollande präsentiert sich in Tulle, wo er sich für einen Sitz im Parlament bewirbt.
Front Populaire – das ist eine wichtige historische Referenz, ein Grossmoment in der Geschichte der französischen Linken. 1934 hatten Faschisten in Paris einen Staatsstreich versucht. Sie waren beschwingt von Adolf Hitlers Machterlangung in Deutschland im Jahr davor. Sie waren auch angestachelt durch die Langlebigkeit von Benito Mussolinis Regime in Italien. Der Coup scheiterte, die Gefahr aber blieb gross. Und so rauften sich Kommunisten, Sozialisten und Radikale, die sich stets fürchterlich befehdeten untereinander, zusammen in einer gemeinsamen Front.
Sehr lange dauerte die Harmonie um Léon Blum, den sozialistischen Anführer, zwar nicht. Aber 1936 gewann jener Front Populaire überraschend die Parlamentswahlen. Blum wurde Regierungschef und setzte unter anderem durch, dass die französischen Arbeiter zwei bezahlte Ferienwochen erhielten, ihr Wochenpensum wurde von 48 auf 40 Stunden verringert.
Es war eine kurze Harmonie – damals
Nach zwei Jahren war es vorbei, die Rechte liess sich dann doch nicht aufhalten. Aber der Widerstandsmythos des Front Populaire lebte fort. Nun also wird er neu beschworen. Wie damals ist die Linke schrecklich zerstritten und in vielem uneins, bis vor einer Woche beschimpften sich Sozialisten und Insoumis gegenseitig so vehement, dass man hätte meinen können, nicht die Lepenisten seien das Problem, sondern die Genossen. Nun aber ist ein Léon-Blum-Moment.
Sogar der frühere Präsident François Hollande, Sozialist und lauter Kritiker der Linksextremisten im Bündnis, bewirbt sich mit dem Nouveau Front Populaire für einen Sitz im Parlament – in der Corrèze, seiner Wahlheimat. Er ist jetzt 69 Jahre alt und wieder populär, nachdem er als Präsident sehr unpopulär gewesen ist. «In solchen Momenten braucht es Führung, ich gebe sie vor», sagte er in die Kameras. François Hollande als neuer Léon Blum? Es sind dies bewegte Zeiten.
«Volksfront gegen die extreme Rechte», steht auf dem Spruchkarton dieses Demonstranten in Paris.
«Die Gefahr der extremen Rechten ist gross, dieser Front Populaire ist unsere einzige Chance», sagt Michèle Gluckstein vom Parti des Travailleurs, einer trotzkistischen Partei. Sie ist Rentnerin, früher war sie Lehrerin in einem Pariser Vorort. «Eigentlich müsste es diesen Front ja immer geben, das wäre super.» Aber eben: In so vielen Fragen hat man Differenzen, zum Beispiel zum Krieg in der Ukraine, zu dem in Gaza, auch zur Kernkraft.
«Keine Ahnung, wie lange das zusammenhält. Jetzt müssen Sie mir eine Zeitung abkaufen», sagt Michèle Gluckstein und lacht. Sie trägt einen Stapel Exemplare von «La Tribune des Travailleurs» unter dem Arm. «Fünf Euro? Dafür bekommen Sie zwei Zeitungen.»
Weiter vorne, bei der Bushaltestelle Filles du Calvaire, trägt ein Mann seine Losung auf einem kleinen Plakat vor sich her. «Rien n’est écrit d’avance», steht da, mit einem Filzstift hingeschrieben, er meint damit: Das Kapitel dieser Wahlen ist noch nicht geschrieben. Wenigstens nicht, solange es nach Merguez riecht.
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