«Selbstbehauptung ist die Aufgabe der Zeit»: Der deutsche Bundespräsident stellt dem Volk harte Zeiten in Aussicht
Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Donnerstag in Berlin beim Staatsakt zu 75 Jahren Grundgesetz. Clemens Bilan / EPA via Keystone
Die Stadt war zerstört, Wasser stand in den Kellern, ein Drittel der Studenten war tuberkuloseverdächtig: Kein Wunder, dass sich 1949 kaum jemand für die Arbeit des Parlamentarischen Rates in Bonn interessierte. Die Menschen hatten andere Sorgen. Sie sassen in zerbombten Wohnungen ohne Strom. Auch ihre Moral war zerstört. Die Deutschen hatten in der NS-Diktatur mörderische Erfahrungen mit sich selbst gemacht. In dieser Ausgangslage entstand die neue Verfassung. Sie sollte verhindern, dass sich Derartiges wiederholen kann.
An Finsternis und vergangenes Leid erinnert an diesem sommerlichen Donnerstag in Berlin nichts, ausser vielleicht die zierliche Gestalt der Holocaust-Überlebenden Margot Friedländer. Vor dem Kanzleramt findet auf zwei Bühnen ein feierlicher Staatsakt zum 75. Geburtstag der Republik und des Grundgesetzes statt, die Berliner Philharmoniker spielen Beethoven und Brahms, Max Raabe singt über das Glück, Prominenz aus Politik und Gesellschaft ist versammelt, es spricht als Einziger der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Rund 1000 Polizisten schützen gut 1000 Gäste.
In einer Reihe von Videos sagen Prominente die Grundrechte auf, die Klimaaktivistin Luisa Neubauer das auf Versammlungsfreiheit, der Virologe Christian Drosten das auf Wissenschaftsfreiheit. Margot Friedländer sagt: «Die Würde des Menschen ist unantastbar.» Sie, der die Würde von den Nationalsozialisten abgesprochen wurde, lebt und spricht es aus – ein ergreifendes Bild. Die 102-Jährige kommt zu Fuss, gestützt auf ihren Rollator, und wird von Altbundeskanzlerin Angela Merkel an ihren Platz gebracht.
Die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer mit dem deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier. ; Liesa Johannssen / AP
Westdeutschland hat die deutsche Teilung nie akzeptiert
Im Übrigen, man muss es leider sagen, ist die Veranstaltung staatstragend, aber etwas blutarm. Die Debatte der letzten Wochen über die Frage, wie wohl die Menschen im Osten das Jubiläum sehen – sie sind ja erst 35 Jahre dabei, und juristisch gesehen sind die fünf östlichen Länder der Bundesrepublik bloss beigetreten –, nimmt Steinmeier auf.
Die Präambel des Grundgesetzes enthielt vor der Wende eine Formel, aus der hervorgeht, dass der Westen Deutschlands die deutsche Teilung nie akzeptiert hat. «Es sollten vierzig Jahre vergehen, bis sich das Freiheitsversprechen des Grundgesetzes für alle Deutschen erfüllen konnte», sagt Steinmeier. «Für diese Freiheiten sind Sie 1989 aufgestanden», so wendet er sich an die Ostdeutschen, und: «Wir verneigen uns vor Ihrem Mut, vor Ihrem Hoffnungsmut.» Das ist freundlich, spart aber den Schmerz aus. Der «Anschluss» wird im Osten von vielen als erste Demütigung empfunden, der weitere folgten.
Auch die restliche Rede ist typisch für den deutschen Konsenspräsidenten. Vielleicht könnte man «steinmeiern» als neues Verb einführen. Steinmeiern, das bedeutet, Wohlklingendes sagen, ohne dass viel hängen bleibt und ohne dass es weh tut, denn es fehlt stets das Konkrete, das zur Debatte einlädt. Das Greif- und erst recht das Angreifbare.
«Es kommen härtere Jahre, und wir müssen uns behaupten»
Nur zu Russland wird Steinmeier für seine Verhältnisse deutlich, später auch zur AfD, ohne sie beim Namen zu nennen. Niemand wisse, wann der Machthunger des Kremlchefs Wladimir Putin gestillt sei, sagt er. Daher sei zwingend: «Wir müssen mehr tun für unsere Sicherheit. Wir müssen in unsere Verteidigung investieren. Wir müssen unser Bündnis stärken. Und wir brauchen dafür die finanziellen Mittel.» Nun, das wusste man eigentlich schon.
Es kämen härtere Jahre, kündigt Steinmeier an. Selbstbehauptung sei die Aufgabe der Zeit. Spätestens hier vertut er die Chance, so etwas wie eine Vision zu entwerfen. Wie sieht das aus, Selbstbehauptung? Auf welche Mission will er das zersplitterte Volk einschwören? Auf welche Qualitäten sollte es sich besinnen? Ein Vakuum.
Der Jubilar ist bei alledem natürlich einer Feier würdig. Das Grundgesetz ist eine Meisterleistung von Verfassung, unbeugsam und doch elastisch, der Bürger hat das schnell begriffen, er ist der Souverän, das eigentliche Herz der Demokratie, und hat mit Selbstbewusstsein immer wieder die Einlösung der Versprechen des Grundgesetzes verlangt: Einige der bedeutendsten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gehen auf Verfassungsbeschwerden von Einzelpersonen zurück.
Der 75. Jahrestag der Verkündung des Grundgesetzes begann am Donnerstag mit einem ökumenischen Gottesdienst. ; Christian Ditsch / Imago
Die Klammer fehlt: Wer sind «wir»?
«12 500 Worte, bestechend klar, in 146 Artikeln, mehr brauchten sie nicht, die Mütter und Väter des Grundgesetzes», lobt Steinmeier. Die Heutigen sind geschwätziger, das sagt er nicht. Das Grundgesetz hat inzwischen 202 Artikel (es endet immer noch mit Artikel 146) und rund 21 000 Wörter, und wenn es nach den Heutigen geht, werden es noch mehr. Kinderrechte ins Grundgesetz, sexuelle Identitäten ins Grundgesetz, die Debatte läuft. Rund um den grossen Festakt haben sich alle möglichen Lobbygruppen zu Wort gemeldet mit Vorschlägen, was noch alles hinein soll. Dabei machen mehr Worte es wahrscheinlich nur länger, aber nicht besser. Geschenkt.
Vor fünf Jahren hatte sich das Bundesjustizministerium zum 70. Geburtstag des Grundgesetzes etwas Besonderes ausgedacht. Ein fiktiver junger Mann, Karl, der Stenograf, berichtet sozusagen «live» aus dem Parlamentarischen Rat. Täglich schickt er Whatsapp-Nachrichten an die Abonnenten. Darin beschreibt er in warmherzigem Ton die Debatten, aber auch seine persönliche Lebenssituation.
Er schildert, wie die Anwältin Elisabeth Selbert erreichte, dass der Satz «Männer und Frauen sind gleichberechtigt» ins Grundgesetz aufgenommen wurde – die Herren wollten nicht so recht, aber Frauen aus ganz Deutschland schütteten den Rat mit Briefen zu. Karl berichtet auch, wie der Satz «Die Todesstrafe ist abgeschafft» ins Grundgesetz kam – nach einer bewegenden Rede des SPD-Abgeordneten Friedrich Wilhelm Wagner. Als Erste profitiert davon eine Kellnerin. Die Giftmörderin Irmgard Swinka-Kuschinski darf weiterleben, obwohl sie schon zum Tode verurteilt ist.
Die Philharmoniker spielen am Donnerstag zum Schluss angemessen pathetisch die Nationalhymne. Der Kameraschwenk zeigt: Längst nicht alle singen mit. Steinmeiers letztes Buch heisst «Wir», und was dieses «Wir» eigentlich ist, das bleibt weiter offen.