„60 bis 70 Prozent derjenigen, die zu uns kommen, haben ein Recht auf Schutz“
Niedersachsens Ministerpräsident Weil (SPD) fordert ein „realistisches Arbeitsprogramm“ von der Ampel. Dazu gehöre „zwingend“ Klimaschutz – aber mit „verkraftbaren“ Maßnahmen. Im Haushaltsstreit erklärt er Lindners Kurs für „gefährlich“. Er warnt vor einem „Schikanekurs“ gegenüber Asylsuchenden.
Stephan Weil (SPD) in der Staatskanzlei in Hannover Marlene Gawrisch/WELT
Stephan Weil, 65, ist seit Februar 2013 Ministerpräsident von Niedersachsen. Er ist zudem SPD-Landesvorsitzender.
WELT AM SONNTAG: Herr Weil, nach der Europawahl haben Sie die Bundesregierung für das schlechte Abschneiden der SPD verantwortlich gemacht und sie aufgefordert, „sehr schnell die Voraussetzungen dafür zu schaffen, Vertrauen zurückzugewinnen“. Mal ehrlich: Wie soll das noch gelingen?
Stephan Weil: Eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung ist ein gemeinsamer Bundeshaushalt für 2025. Schon die Art und Weise, mit der die Koalition mit dieser Herausforderung umgeht, wird zeigen, ob alle in der Bundesregierung vertretenen Parteien die richtigen Schlussfolgerungen aus dem Europawahlergebnis gezogen haben. Wir brauchen jetzt sehr schnelle Entscheidungen, die möglichst auch in der Sache überzeugen und gemeinsam nach außen vertreten werden. Das wäre gut und wichtig, würde aber vermutlich noch nicht reichen.
WELT AM SONNTAG: Was müsste hinzukommen?
Weil: Die Ampel-Koalition sollte sich auf ein realistisches Arbeitsprogramm für das letzte Jahr der Legislaturperiode verständigen. Und dieses Arbeitsprogramm müsste dann ebenfalls einvernehmlich nach außen vertreten und konsequent umgesetzt werden. Vorhaben, die realistischerweise in dieser Legislaturperiode keine Chance mehr haben, sollte man auf die nächste Legislatur verschieben. Jetzt kommt es darauf an, sich auf die Dinge zu konzentrieren, die man gemeinsam schaffen kann.
WELT AM SONNTAG: Die wären?
Weil: Wir sollten zwingend alle Maßnahmen fortführen, die das Klima schützen, aber auch verkraftbar sind. Diesen Weg müssen wir konsequent weitergehen, man darf ihn nicht nach einem Drittel der Strecke beenden. Dabei muss aber unbedingt die Frage des sozialen Ausgleichs um einiges stärker als bislang bedacht werden. Wenn wir sehen, wie sehr die AfD in manchen ländlichen Regionen absahnt, dann lässt sich erahnen, wie sehr beispielsweise das Heizungsgesetz viele Menschen dort in Angst und Schrecken versetzt hat. Wenn daraus in Berlin die richtigen Schlussfolgerungen gezogen würden, wäre das ein echter Fortschritt.
WELT AM SONNTAG: Vermutlich scheitert diese Strategie schon an der Eingangsvoraussetzung. Beim Thema Haushalt haben sich SPD und Grüne auf der einen Seite, die FDP auf der anderen komplett eingemauert. Die einen wollen mehr kreditfinanzierte staatliche Investitionen. Für die anderen ist das unverantwortliches Teufelszeug. Wie soll die Koalition da ohne Gesichtsverlust auf dieser oder jener Seite herauskommen?
Weil: Wenn es nur SPD und Grüne wären, die zusätzliche Investitionen fordern, wäre Ihre Frage sehr berechtigt. Es ist aber so, dass große Teile des ökonomischen Sachverstands mittlerweile der Ansicht sind, dass wir mit der derzeit gültigen Fassung der Schuldenbremse die aktuellen Herausforderungen nun einmal nicht bewältigen können. Der Sachverständigenrat für die wirtschaftliche Entwicklung steht da ebenso wenig unter Linksverdacht wie der Bundesverband der Deutschen Industrie.
Im Übrigen darf man sich gerne auch international umgucken. Jedes Land, das es sich auch nur halbwegs leisten kann, investiert. Deutschland bildet eine Ausnahme. Das Motto „Wir müssen sparen, koste es, was es wolle“ ist gefährlich. Und letztlich würde es uns eine ganze Menge kosten.
WELT AM SONNTAG: Jetzt haben Sie erklärt, wie Rot-Grün ohne Gesichtsverlust aus der Haushaltsdebatte herauskommt. Wie Christian Lindner und die FDP das schaffen sollen, fehlt noch.
Weil: Ich hoffe, dass es Herrn Lindner zu denken gibt, dass andere kluge Köpfe, die zunächst seiner Meinung waren, mittlerweile ihre Position revidiert haben. Sie hatten ihre Gründe.
WELT AM SONNTAG: Die Jusos und eine Gruppe der SPD-Linken streben ein Mitgliederbegehren zum Thema Bundeshaushalt 2025 an, mit dessen Hilfe Einsparungen bei den Haushaltsverhandlungen ausgeschlossen sollen. Eine gute Idee?
Weil: Nein, sicher nicht. Am Ende des Tages wird auch dieser Haushalt eine Mehrheit im Bundestag brauchen. Dabei geht es immer um eine differenzierte Gesamtabwägung. So ein Bundeshaushalt ist mehr als komplex und für eine Mitgliederbefragung denkbar ungeeignet.
WELT AM SONNTAG: Sie selbst haben im vergangenen Jahr diverse Male gesagt „Stopp, so geht es nicht“ – zum Beispiel beim Thema Industriestrompreis. Die Bundesregierung hat sich keinen Millimeter in Ihre Richtung bewegt …
Weil: Nicht nur das. Sie hat sich leider sogar in die entgegengesetzte Richtung bewegt und den Zuschuss für die Netzentgelte gestrichen. Das hat bei den meisten Unternehmen nochmal zu einer Steigerung der Energiekosten geführt.
WELT AM SONNTAG: Mit dem Ergebnis, dass offenbar noch mehr Unternehmen über eine Verlagerung ihrer Produktionskapazitäten ins Ausland nachdenken. Kann es sein, dass die Ampel wirtschaftspolitisch schlicht und ergreifend den Gong nicht gehört hat?
Weil: Den Zuschuss für die Netzentgelte zu streichen war falsch, keine Frage. Man muss sich allerdings auch daran erinnern, unter welchen Umständen diese Entscheidung gefallen ist. Das Bundesverfassungsgericht hatte unmittelbar vor der Verabschiedung des Haushalts ein Urteil gesprochen, das in dieser Konsequenz von den wenigsten erwartet worden war. Die Folgen für den Bundeshaushalt waren dramatisch. Deswegen sind dann offenkundig Entscheidungen gefällt worden, die so unter anderen Umständen vermutlich nie getroffen worden wären.
WELT AM SONNTAG: Ihre Kollegin Manuela Schwesig und der thüringische SPD-Chef Georg Maier, der vor einer schwierigen Landtagswahl steht, fordern, dass sich die SPD künftig mehr um die „arbeitende Mitte“ kümmert und weniger um Gender-Wahrheiten oder die nächste Transferleistung. Haben die beiden recht?
Weil: Ja. Bill Clinton hat diese Gruppe gut beschrieben: „People who work hard and play by the rules“ – Menschen, die hart arbeiten und sich an die Regeln halten. Wenn man die Rentnerinnen und Rentner dazu nimmt und Familienangehörige, umfasst das eine große Mehrheit der Bevölkerung. Das muss die Gruppe sein, um die sich die SPD besonders kümmert. Und für diese Gruppe ist zum Beispiel ein ausreichender Lohnabstand zwischen denjenigen, die arbeiten, und denjenigen, die arbeiten könnten, sich aber nicht ausreichend um Arbeit kümmern, ein wichtiges Thema.
WELT AM SONNTAG: War die Einführung des Bürgergelds, das diesen Lohnabstand in vielen Fällen einebnet, also ein Fehler?
Weil: Das Bürgergeld hat Fehler der Hartz-IV-Reform korrigiert. Das war absolut in Ordnung. Aber in der Gesellschaft und auch in der SPD findet eine große Mehrheit, dass diejenigen, die sich angemessenen Arbeitsangeboten konsequent verweigern, deutliche Folgen spüren müssen. Und an diesem Punkt sollte es beim Bürgergeld noch Bewegung geben.
WELT AM SONNTAG: Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel, ein Niedersachse, rät der SPD, sich endlich an der strengen Migrationspolitik der dänischen Sozialdemokraten zu orientieren. Ein richtiger Weg?
Weil: 60 bis 70 Prozent derjenigen Menschen, die zu uns kommen, haben ein Recht auf Schutz, daran muss immer wieder erinnert werden. Es sollte selbstverständlich sein, solche Menschen fair zu behandeln. Damit verträgt sich kein Schikane-Kurs. Richtig ist, dass wir in Deutschland über Jahrzehnte hinweg einen entscheidenden Fehler gemacht haben. Wir haben die Tür für legale, kontrollierte Zuwanderung geschlossen gehalten und gleichzeitig kein wirksames Stoppschild gegen illegale, unkontrollierte Zuwanderung gesetzt.
Das hat sich erst durch die Beschlüsse des vergangenen Jahres, auch auf EU-Ebene, geändert. Ich bin guten Mutes, dass diese neue Asylpolitik – Grenzsicherung, Kontrollen auch in Grenznähe, gerechte Verteilung innerhalb der EU – die Situation auf Dauer spürbar verbessern wird.
WELT AM SONNTAG: Die Ministerpräsidenten-Konferenz hat den Bundeskanzler am Donnerstag erneut gebeten, Asylverfahren künftig jenseits unserer Grenzen in Drittstaaten durchzuführen. Die Union drängt bei diesem Thema – Sie selbst haben sich eher skeptisch geäußert. Warum?
Weil: Da muss man unterscheiden zwischen einem Modell à la Ruanda, bei dem Menschen aus Deutschland gegen ihren Willen in ein wildfremdes Land verbracht werden sollen, und einem vorgelagerten Asylverfahren in einem Land, in das sich die Betroffenen selbst begeben haben. Das erste Modell begegnet einem ganzen Sack von rechtlichen und tatsächlichen Bedenken, wie die Anhörung von Sachverständigen durch das Innenministerium ergeben hat.
Viele davon teile ich, daraus mache ich keinen Hehl. Das Asylverfahren in einem Transitland ist deutlich unproblematischer, aber auch da ist erst noch ein Land zu finden, das dafür zur Verfügung steht. Beides wird nun seriös geprüft, und dann werden wir es ja sehen.
WELT AM SONNTAG: In Wahrheit steht das Thema Drittstaaten-Lösung ja schon sehr lange auf der politischen Tagesordnung. Ihre Prognose: Wie geht das am Ende aus?
Weil: Schauen wir doch mal auf die Erfahrungen, die Großbritannien in Sachen Ruanda bis jetzt nach einer mehrjährigen Debatte macht. Bis jetzt ist nichts passiert, und wenn das Modell einmal realisiert werden sollte, werden die Kosten riesig und die Menge der Fälle überschaubar sein. Selbst im günstigsten Fall aus Sicht der Befürworter würde dieses Modell nur einen kleinen Beitrag leisten können. Anders als Großbritannien wäre Deutschland übrigens an das europäische Recht gebunden. Kurzum: Ich habe große Fragezeichen.