AfD und Rassemblement National: So ostdeutsch wählt Frankreich
Wird aus der AfD-Chefin Alice Weidel die deutsche Marine Le Pen?
Der Osten blau, der Westen schwarz. Wer sich die Ergebnisse der Europawahl in Deutschland auf der Landkarte anschaut, sieht es sofort: Die Republik ist politisch zweigeteilt. Und zwar ziemlich genau entlang der Grenze zwischen der ehemaligen DDR und der alten Bundesrepublik. In den sogenannten alten Bundesländern konnte die Union einen Großteil der Wahlkreise für sich gewinnen. In den östlichen Bundesländern ist fast die Hälfte der Landkarte blau – die Parteifarbe der AfD.
Die Reaktionen auf dieses Ergebnis in den vergangenen zwei Wochen waren erwartbar. In sozialen Netzwerken wurde in vorwurfsvollem Ton gefragt, wo denn die „Dankbarkeit“ der Ostdeutschen bleibe. Zahlreiche Medien sprachen von angeblich erfolgreichen TikTok-Kampagnen der AfD für Jugendliche, von Fake News und der Notwendigkeit von mehr „Aufklärung“. Bundesfinanzminister Christian Lindner sagte kürzlich, die Regierung müsse den Ostdeutschen ihre Ukraine-Politik besser erklären.
Dieser stigmatisierende und belehrende Reflex, der vor allem aus dem Westen kommt, ist natürlich nicht neu. Als die AfD im vergangenen Jahr in Sachsen, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern in Umfragen die 30-Prozent-Marke knackte, ließ Katrin Göring-Eckardt die Öffentlichkeit wissen, die Ostdeutschen seien nie „in der Demokratie angekommen“.
Schon 2016 sah Armin Laschet „die Köpfe der Menschen“ durch die DDR „zerstört“. „Ganze Landstriche haben nicht gelernt, Respekt vor anderen Menschen zu haben“, meinte er. Deniz Yücel attestierte den Ostdeutschen 2010 „Bildungsferne“.
All diese Erklärungen sind nicht nur abwertend, sondern vor allem unzureichend, um zu verstehen, was in Ostdeutschland wirklich passiert. Denn was ist, wenn Ostdeutschland nicht „rückständig“, sondern die Zukunft ist? Was, wenn der Osten kein „Sonderfall“ ist, sondern einem großen Trend folgt, also eigentlich ganz „normal“ ist?
Erweitert man den Blickwinkel, stellt man schnell fest, dass Ostdeutschland sich ziemlich genau so entschieden hat wie ein großes europäisches Land, das in der Geschichte oft eine Vorreiterrolle gespielt hat und zu dem Deutschland eine ganz besondere Beziehung pflegt: Frankreich.
Sowohl dort als auch in Ostdeutschland hat eine rechtsextreme Partei die Wahlen gewonnen. Die AfD kam in den „neuen“ Bundesländern auf 28 Prozent, Marine Le Pens Rassemblement National in ganz Frankreich auf 31,5 Prozent. Die Grünen erzielten hier wie dort nur schwache einstellige Ergebnisse, die politische Mitte wurde geschwächt. Eine eher links zu verortende Protestpartei wie das BSW schaffte in Ostdeutschland aus dem Stand zwölf Prozent. In Frankreich legte die radikale Linke La France insoumise von Jean-Luc Mélenchon mit zehn Prozent im Vergleich zur Wahl 2019 um fast vier Prozentpunkte zu.
Die Ergebnisse lassen sich nicht eins zu eins übertragen, da die politische Landschaft in Frankreich anders funktioniert als in Deutschland und viel dynamischer ist. Aber die großen Trends sind dieselben: Das Antiestablishment wächst rechts wie links, die politische Mitte schrumpft, die Polarisierung nimmt zu.
Das Abstimmungsergebnis auf beiden Seiten ist letztlich Ausdruck einer weit verbreiteten Frustration breiter Bevölkerungsschichten angesichts der Art und Weise, wie Politik gemacht wird. Die Wut auf die als abgehoben empfundene politische Elite in Paris beziehungsweise Berlin ist enorm.
Landwirte sind auch dieses Jahr auf die Straße gegangen, um gegen die Politik der französischen Regierung zu protestieren.
Es ist daher kein Zufall, aber doch bemerkenswert, dass die Probleme und Sorgen der Ostdeutschen mit denen der Franzosen nahezu deckungsgleich sind. Man denke nur an die Bauernproteste, die sowohl in Ostdeutschland als auch in Frankreich extrem stark waren. Auf beiden Seiten werden Regulierungsvorgaben aus Brüssel strikt abgelehnt. Generell ist die Ablehnung der EU in Frankreich ähnlich wie in Ostdeutschland extrem hoch. Man darf nicht vergessen, dass Frankreich 2005 in einem Referendum gegen die Annahme des Vertrages über eine Verfassung für Europa gestimmt hat.
Migration ist natürlich auch ein Thema, das die Wähler auf beiden Seiten beschäftigt. Aber während Frankreich ein Einwanderungsland ist, kann man das von Deutschland und insbesondere von Ostdeutschland noch nicht behaupten.
Betrachtet man die weiteren Motive der Wähler, so zeigt sich, dass sowohl die Ostdeutschen als auch die Franzosen die explodierenden Energiekosten und die Ablehnung einer Eskalation des Krieges in der Ukraine als Gründe für ihre Wahlentscheidung nennen.
Letzteres ist besonders bemerkenswert. In Frankreich spielt das Thema Ukraine in der Öffentlichkeit eine deutlich geringere Rolle als in Deutschland. Viele Franzosen werfen Präsident Emmanuel Macron vor, den Krieg zu instrumentalisieren, um von innenpolitischen Problemen abzulenken. Eine Eskalation des Krieges in der Ukraine, wie Macron sie beispielsweise mit seiner Äußerung betreibt, er schließe nicht aus, in naher Zukunft Militär in die Ukraine zu entsenden, wird sehr kritisch gesehen. 83 Prozent der Franzosen sind gegen die Entsendung von Soldaten in die Ukraine.
In Ostdeutschland ist die Stimmung ähnlich. So gaben in einer aktuellen Umfrage 72 Prozent der Ostdeutschen an, die Erhöhung der Militärhilfe für die Ukraine kritisch zu sehen.
Die allgemeine Klammer, die die Ängste und Sorgen im Osten und in Frankreich zusammenhält, ist, dass sich viele abgehängt und benachteiligt fühlen. Man hat Angst vor dem wirtschaftlichen Abstieg.
Und diese Angst ist berechtigt, wenn man sich die Zahlen anschaut. Im Vergleich zum Westen hat der Osten eine geringere Lebenserwartung, einen kontinuierlichen Bevölkerungsrückgang und eine höhere Arbeitslosigkeit. Das Durchschnittseinkommen liegt bei 77 Prozent des Westniveaus, das Pro-Kopf-Nettovermögen ist nur halb so groß, der ostdeutsche Arbeitstag dauert zwei Stunden länger, die Kriminalität ist höher, der Anteil der Landbevölkerung doppelt so hoch.
Die Arbeitslosenquote in Frankreich ist mit 7,5 Prozent fast genauso hoch wie in Ostdeutschland. Die Armut ist in unserem Nachbarland in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen, mittlerweile sind 20 Prozent der Franzosen arm.
Das Versprechen der deutschen Einheit waren blühende Landschaften, doch es kam zu einer Deindustrialisierung im Osten, die bis heute ein ungelöstes Problem darstellt. Fast zeitgleich mit dem Fall der Mauer erlebte auch Frankreich eine massive Deindustrialisierungswelle. Frankreich ist das am stärksten deindustrialisierte Land Europas, mit einem Verlust von 2,5 Millionen Industriearbeitsplätzen seit 1974.
Sowohl in Ostdeutschland als auch in Frankreich profitieren vor allem rechtsextreme Parteien von der Wirtschaftskrise und der steigenden Arbeitslosigkeit. Der Zusammenhang zwischen schlechter wirtschaftlicher Lage und dem Erstarken rechter Parteien ist durch zahlreiche Studien belegt. So führt beispielsweise laut der Ende 2022 veröffentlichten Untersuchung „Die politischen Kosten der Austeritätspolitik“ eine Kürzung der öffentlichen Ausgaben um ein Prozent zu einem Anstieg des Stimmenanteils rechtsextremer Parteien um rund drei Prozentpunkte.
Wenn man diesen Vergleich zwischen Frankreich und Ostdeutschland für sinnvoll hält, dann erlaubt der Blick ins Nachbarland auch einen Blick in die Glaskugel für den Osten. Denn Frankreich ist mit den oben aufgezeigten Entwicklungen (Deindustrialisierung, Unzufriedenheit mit den Eliten etc.) schon weiter als Ostdeutschland.
Erstens droht Frankreich ein politisches Chaos. Betrachtet man die aktuellen Umfragewerte, so könnte die Nationalversammlung nach den Wahlen am 30. Juni und 7. Juli in drei etwa gleich starke Blöcke zerfallen: das Lager des Präsidenten, das gerade neu entstandene Linksbündnis aus Sozialisten, Grünen und La France insoumise sowie die Rechtspopulisten um Le Pen. Diese Blöcke könnten sich dann gegenseitig blockieren und Frankreich unregierbar machen. Auch in den ostdeutschen Bundesländern drohen die Parlamente bei den nächsten Wahlen in drei große Lager (AfD, CDU und BSW) zu zerfallen, die nur schwer miteinander können.
Zweitens ist in Frankreich in gewisser Weise die sogenannte Brandmauer gefallen. Die Konservativen haben sich nach den Europawahlen für eine Zusammenarbeit mit Le Pen ausgesprochen. Wenn die AfD ähnlich wie der Rassemblement National salonfähig wird, ist es nicht undenkbar, dass auch die CDU in Ostdeutschland in den nächsten Jahren mit der AfD zusammenarbeitet.
Drittens zeigt das Beispiel Frankreich, dass der Rassemblement National umso gemäßigter auftritt, je näher er an der Macht ist. So hat sich Jordan Bardella, der bei einem Wahlsieg der Rechten Premierminister werden will, in der vergangenen Woche für die Lieferung von Langstreckenraketen an die Ukraine ausgesprochen, obwohl dies in seiner Partei mehr als umstritten ist. Er hat auch angedeutet, dass er Macrons Rentenreform doch nicht abschaffen könnte. Auch das wäre eine Art „Verrat“ an seinen Wählern, von denen die überwältigende Mehrheit die Rentenerhöhung ablehnt.