EM-Gold – doch Lobalus Glückseligkeit dauert genau 20 Stunden
Der Europameister darf in Paris nicht für die Schweiz starten. Obwohl in der Olympischen Charta Ausnahmen vorgesehen sind. Laufen fürs Flüchtlingsteam? Das ist eine zwiespältige Einladung.
«Die Schweiz ist das richtige Land für mich»: Dominic Lobalu bei einer Siegerehrung an der EM in Rom.
Tief im Innern ist seine Glückseligkeit irrsinnig. Mittwochabend, kurz nach zehn in Rom: Vierundzwanzig Runden sind gelaufen, Dominic Lobalu dreht auf der letzten auf, überholt einen nach dem anderen und sprintet mit den letzten Körnern, die er noch hat, ins Ziel. Das Publikum tobt, der Stadionsprecher schreit: «Che spettacolo!», der Sieger ist jetzt Europameister über 10’000 m. Lobalu schnappt sich eine Schweizer Fahne, strahlt über das ganze Gesicht – es ist geschafft. Mit seinen langen, dünnen Armen spannt er das rot-weisse Tuch hinter seinem Kopf auf. Später wird er sagen: «Ich danke der Schweiz!»
Er ist nicht irgendein Sieger. Lobalu ist wahrscheinlich der Glücklichste all jener, die hinter dem Stadio Olimpico zuoberst auf dem Podest standen und für die die Hymne ihres Landes gespielt wurde. Am Samstag zuvor war er schon einmal hier gewesen, Bronze über 5000 m. Schon da hatte Markus Hagmann, sein Trainer, der eigentlich viel mehr als das ist, gemutmasst, dass die Chancen seines Athleten auf der ganz langen Distanz noch besser seien. Tatsächlich waren sie das.
Der Befreiungsschlag und der Antrag ans IOK
Erst einen Monat vorher hatte Lobalu grünes Licht für die EM erhalten. Hatte World Athletics, der Leichtathletik-Weltverband, ihm und seinem Umfeld mitgeteilt, dass er ab sofort an internationalen Meisterschaften für die Schweiz antreten dürfe. Auch ohne Pass. Es war ein langer und zermürbender Kampf gewesen, in den sich im Frühling 2023 Swiss Athletics eingeschaltet hatte. Präsident Christoph Seiler hatte immer wieder betont, dass es im Gesuch, das man dem Weltverband habe zukommen lassen, nicht darum gehe, dass Lobalu für die Schweiz antreten könne. Sondern dass er überhaupt für jemanden starten dürfe.
Am 10. Mai dann die Zusage. Nun ist alles klar. Sie ist wie ein Befreiungsschlag für den Athleten – und auch den Trainer. Nun kennen sie ihr Ziel. Jetzt wissen sie, welche Trainings bis zur EM noch von Nutzen sein könnten. Nein, noch nicht ganz alles ist klar: Swiss Olympic und Swiss Athletics informieren das IOK und beantragen, dass der Entscheid von World Athletics für die Olympischen Spiele in Paris übernommen wird.
Lobalu war der Läufer ohne Land, dessen einziger Traum es war, als erster Flüchtling an internationalen Meisterschaften eine Medaille zu gewinnen. Es ist geschafft.
Goldgewinner Dominic Lobalu geniesst bei der Medaillenzeremonie das Bad in der Menge.
Er ist der Flüchtling aus dem Südsudan, der mit 9 seine Eltern im Bürgerkrieg verliert, nach Kenia flüchtet, dort lieber läuft, als Fussball spielt und mit seinem Talent irgendwann im Flüchtlingsteam des Weltverbands Aufnahme findet. 2017 nimmt Lobalu an der WM in London teil, doch 2019 haut er nach einem Wettkampf in Genf ab. Weil er von seinen Preisgeldern nie etwas sieht, weil er sich ausgenützt fühlt. Er ersucht in der Schweiz um Asyl, kommt auf Umwegen in die Ostschweiz und trifft Hagmann, den Sekundarlehrer, einstigen Steepleläufer und heutigen Trainer des LC Brühl. Dessen Auge erkennt sofort: ein Juwel.
Das IOK sagt: Nicht Staatsbürger, kein Start
Fünf Jahre und unheimlich viel Trainings- und Integrationsarbeit später ist Lobalu Europameister. Es tönt wie ein Märchen, doch niemand würde die Geschichte so brutal erfinden. Deshalb ist die Glückseligkeit in dieser römischen Mittwochnacht so irrsinnig. Lobalu sagt irgendwann im Trubel: «Die Schweiz ist das richtige Land für mich. Viele Leute haben mir geholfen, ich danke dem Verband. Swiss Athletics hat für mich gekämpft. Und auch das Schweizer Publikum hier hat mich angefeuert.»
Das Glück dauert genau 20 Stunden. Dann bricht alles in sich zusammen.
In Lausanne hat am Donnerstag die Exekutive des Internationalen Olympischen Komitees (IOK) getagt. Und als das Resultat am frühen Abend bei Lobalus Umfeld und bei Swiss Athletics eintrifft, ist da nur Konsternation und die euphorische Stimmung augenblicklich erschlagen: Lobalu darf in Paris nicht für die Schweiz starten. Die Begründung: In der Olympischen Charta sei festgehalten, dass ein Athlet Staatsbürger sein müsse jenes Landes, für das er antreten wolle. Und weil der 10’000-m-Europameister den Schweizer Pass nicht besitzt, ist er nicht Staatsbürger. Er wird ihn frühestens 2031 beantragen können.
Das IOK hat all die Abklärungen, die der Leichtathletik-Weltverband in den eineinhalb Jahren zuvor bezüglich Lobalu getroffen hat, nicht in Betracht gezogen. Nicht, dass er längst in der Schweiz integriert ist; nicht, dass er mehrere Deutschkurse besucht hat und immer noch besucht; nicht, dass er eine Arbeitsstelle hat und ohnehin nie Sozialhilfe beanspruchte – nichts von allem, was ein Sonderteam von Verbandspräsident Sebastian Coe von den Schweizern verlangte, und was es schliesslich überzeugte.
Denn die Sichtweise des IOK ist eine andere: Es hält fest, dass Athleten nicht als Mitglieder ihres Sportverbandes an Olympischen Spielen teilnehmen, sondern als Mitglieder ihres Nationalen Olympischen Komitees.
Ausnahme vorgesehen in der Olympischen Charta
Ein Fragenkatalog, den diese Redaktion Anfang Woche dem IOK zukommen liess, blieb unbeantwortet, man verwies auf eine Medienmitteilung. Der Katalog enthielt den Hinweis auf die Charta und den Punkt, dass das Entscheidungsgremium sich nicht genau an den Buchstaben halten muss und eine Ausnahme machen kann, wenn ein Athlet noch nicht Staatsbürger ist. Doch auch die Frage, wann eine solche Ausnahme gemacht werde und ob dies je bei jemandem getan worden sei, blieb unbeantwortet.
Lobalu, über dessen einzigartigen Fall Medien aus der ganzen Welt berichteten, hätte es sich einfach machen können. Es gibt genügend Länder, die Athleten wie ihn suchen, mit hohen Gagen ködern, und – ehe sie sichs versehen – einbürgern. Auch Lobalu hatte solche verlockenden Angebote. Die von World Athletics auferlegte Wartefrist von drei Jahren bei einem Nationenwechsel (für eine Olympiateilnahme) wäre bis Paris längst verstrichen gewesen. Das IOK hätte bei einer solchen Entwicklung weder sein Veto eingelegt noch eine Frage gestellt.
Doch Lobalu hat nicht den einfachen Weg gewählt. Er wollte in der Schweiz bleiben.
Zwiespältige Einladung ins Flüchtlingsteam
Gleichzeitig mit dem abschlägigen Bescheid hat ihn das IOK eingeladen, in Paris für das «Refugee Team», das Flüchtlingsteam, zu starten. Obwohl es diese 36-köpfige Equipe aus elf Ländern schon längst bekannt gegeben hat. Es ist ein zwiespältiges Angebot, bei dem leicht der Verdacht aufkommen könnte, man möchte sich zusätzlich mit einem Europameister schmücken. Und «Refugee Team» ist ein Angebot, das bei Lobalu wohl mehr Entsetzen als freudige Erregung auslöst.
Dominic Lobalu und sein Trainer Markus Hagmann am Swiss Economic Forum in Interlaken in den Tagen vor der EM.
Sowohl der Athlet als auch der Trainer wollen sich im Moment nicht dazu äussern. Gegenüber dem IOK haben sie und auch Swiss Athletics sich Bedenkzeit erbeten. Noch kennen sie die Bedingungen nicht, die an ein Mitglied des Flüchtlingsteams gestellt werden. Gemeinsames Trainingslager vor Paris? Mit oder ohne eigenen Trainer? Gemeinsames Wohnen im Olympiadorf? Wer profitiert bei der Vermarktung im Erfolgsfall? Es gibt viele Ungewissheiten – und es gibt viel Frust und Ernüchterung.
Wenigstens eines ist gesichert. Auf die Frage von Swiss-Athletics-Präsident Seiler, ob sich denn eine Olympiateilnahme Lobalus mit dem Flüchtlingsteam negativ auswirken könnte auf seinen Status bei World Athletics, antwortete Präsident Coe kurz und klar: «In keiner Weise.» Der Läufer ohne Land hat in Rom erstmals als Läufer mit Land triumphiert. Vielleicht ist das in Paris schon wieder anders.
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