Die Zuwanderung überschattet die Verhandlungen mit der EU
Da hat es angefangen: Mitte März trafen sich Bundespräsidentin Viola Amherd (l.) und Ursula von der Leyen, Kommissionspräsidentin der EU, zum Start der Verhandlungen in Brüssel. Alessandro Della Valle / Keystone
Eine abgekartete Sache sei das, haben sie gesagt: Exponenten der SVP und der Gewerkschaften warfen dem Bundesrat vor, die Verhandlungen mit der EU, die Mitte März begonnen haben, seien nur vorgetäuscht. In Tat und Wahrheit stehe nach den vorangehenden Sondierungen bereits fest, wie das neue Vertragspaket am Ende aussehen werde. Nun zeigt sich nach über 70 Verhandlungsrunden, dass offenbar doch ernsthaft verhandelt wird. Wegen mangelnder Fortschritte ist letzte Woche ein Treffen zwischen Aussenminister Ignazio Cassis und dem Vizepräsident der EU-Kommission, Maros Sefcovic, kurzfristig abgesagt worden.
Auch das Communiqué, das der Bundesrat am Mittwoch nach einer Aussprache über das dornenreiche Dossier veröffentlicht hat, trieft nicht gerade vor Euphorie. Das geplante Paket umfasst eine Vielzahl von Themen, die Palette reicht von der dynamischen Rechtsübernahme über neue Abkommen zu Strom und Gesundheit bis zur Kooperation der Hochschulen. Der Bundesrat konstatierte am Mittwoch, es gebe «konkrete Fortschritte» in manchen Bereichen. In anderen aber «stimmen die Positionen noch zu wenig überein». Als Beispiel dafür nennt er just jene zwei Themen, die innenpolitisch die grösste Sprengkraft haben: Zuwanderung und Lohnschutz.
Schutzklausel und Spesen
Laut Involvierten geht es insbesondere um die Schutzklausel gegen eine übermässige Zuwanderung, bei der Bern Konzessionen fordert. Die EU zeigt sich hier unnachgiebig, will nicht Hand bieten zu einer Einschränkung der Personenfreizügigkeit. Ähnlich hart sind die Fronten dem Vernehmen nach bei einem Nebengleis des Lohnschutzes: bei der sonderbaren Spesenregelung der EU. Sie könnte bewirken, dass ausländische Firmen ihren Angestellten bei Einsätzen in der Schweiz nur Spesen nach Ansätzen ihres Heimatlandes zahlen. Die Schweiz lehnt dies ab. Falls die EU hart bleibt, sollen notfalls autonome Vorschriften im Inland negative Auswirkungen verhindern.
Das ist kein Einzelfall. Auch bei anderen Themen zeigt sich, dass – parallel zu den Verhandlungen mit der EU – die innenpolitischen Arbeiten wichtiger werden. Laut dem Bundesrat haben die Vorbereitungen für die Überführung der Elemente des Pakets in das Schweizer Recht begonnen. Inzwischen steht fest, welche Gesetze und Verordnungen angepasst und welche «Begleitmassnahmen» eingeführt werden sollen.
Zwei Abstimmungen
Und auch wenn viele Fragen offen sind, so hat sich am Mittwoch zumindest eine geklärt: Der Bundesrat hat beschlossen, wie er mit der SVP-Initiative umgehen will, die das gesamte Verhandlungspaket torpedieren könnte. Die Rede ist von der jüngsten Zuwanderungsinitiative der Partei («Keine 10-Millionen-Schweiz»). Sie verlangt in letzter Konsequenz das Ende der Personenfreizügigkeit, falls die Schweiz stärker wächst als vorgesehen. Wird die Initiative angenommen, ist nicht nur das geplante Paket obsolet, auch die bestehenden bilateralen Verträge wären infrage gestellt. Zeitlich und inhaltlich werden sich die Diskussionen zwangsläufig überlagern.
Doch nun hat der Bundesrat beschlossen, dass er keinen Gegenvorschlag zur SVP-Initiative ausarbeiten wird. Um trotzdem zu demonstrieren, dass er die Bedenken ernst nimmt, plant er «ein Konzept für Begleitmassnahmen». Die Rede ist etwa von einer Zuwanderungsabgabe für Fachkräfte von ausserhalb der EU, von einem Ausbau der Wohnraumförderung oder einem stärkeren Mieterschutz. Das beste Gegenargument indes wäre wohl eine handfeste Schutzklausel im Freizügigkeitsabkommen.
In Bern wird eifrig diskutiert, wie der Bund die beiden Volksabstimmungen takten soll. Nach dem Entscheid vom Mittwoch ist zu erwarten, dass das Volk zuerst über die SVP-Initiative abstimmen wird und erst danach über das Verhandlungspaket. Als Nächstes muss der Bundesrat spätestens im Mai 2025 die Botschaft zur SVP-Initiative an das Parlament überweisen. Danach könnte das Parlament seinerseits einen Gegenvorschlag erarbeiten, um zu verhindern, dass die Initiative angenommen wird. Andernfalls wäre eine Volksabstimmung in der ersten Hälfte 2026 möglich.
Weniger klar ist, wann das Volk und allenfalls die Stände über die neuen Verträge mit der EU entscheiden würden. Bern und Brüssel wollen die Verhandlungen bis Ende 2024 abschliessen. Danach folgen die Diskussion im Bundesrat, die Vernehmlassung sowie die Debatten im Parlament. Falls das Paket diesen Prozess überlebt, kommt es am Ende zur Volksabstimmung. Als mögliches Zeitfenster gilt aus heutiger Sicht Juni 2026 bis Februar 2027. Danach wäre eine Abstimmung wegen der nationalen Wahlen vom Oktober 2027 wohl erst wieder 2028 realistisch.