Mister Brexit wird für Sunak zum echten Problem
Er ist wieder da. Bei den Parlamentswahlen könnte Farages Partei die Tories entscheidend schwächen. Und das wäre nur der erste Schritt.
Will anstelle der Konservativen zweitgrösste Macht werden: Nigel Farage, hier im Wahlkampf während des EM-Spiels Dänemark - England.
Erst liess er seine Fans nach seiner Rückkehr rufen. Dann sprang er auf die Bühne, einem Popstar gleich. Mittlerweile zieht er mehr Aufmerksamkeit auf sich, als es der Konkurrenz im britischen Wahlkampf lieb sein kann. Nigel Farage weiss die Wähler noch immer in seinen Bann zu schlagen.
Abzusehen war ja schon im vorigen Herbst, dass der weithin bekannte Veteran der Anti-EU-Bewegung neuen Wirbel auslösen würde. Damals hatte Farage eingewilligt, an der TV-Reality-Show «I’m a Celebrity – Get Me Out of Here» teilzunehmen und Mutproben im australischen Dschungel zu bestehen.
Gestählt aus dem Dschungel
Nachdem es etwas ruhig geworden war um ihn nach dem Brexit, meldete er sich zurück als einer, der Käfern, Kakerlaken und Gewürm aller Art trotzte und seinen Kopf unerschrocken in ein Schlangenbehältnis steckte. «Jetzt habe ich vor nichts mehr Angst», verkündete er anschliessend.
Mit seinem breiten Grinsen, seinen witzelnden Kommentaren und seinem demonstrativen Führungsanspruch im Camp gelang es ihm, sich daheim zusätzliche Beachtung zu verschaffen – zumal bei der jüngeren Generation.
Dieser Auftritt verhalf ihm bei den Jungen zu mehr Popularität: Nigel Farage im Dschungelcamp.
Überraschen konnte es so kaum, dass nach Ausrufung der Unterhauswahlen im Mai durch Premierminister Rishi Sunak sich alle fragten, wann Nigel Farage sich in den Wahlkampf einmischen würde. Wann er seiner Partei Reform UK, der Partei der englischen Rechtspopulisten, den nötigen Rückhalt für die kommende Wahl verschaffen würde. Mittlerweile hat Farage ganz und gar rücksichtslos die Führung der Partei übernommen, die er einst als Brexit Party gründete und die ihm, als privates Unternehmen statt als demokratischer Verband, sogar buchstäblich gehört.
Er hat sich selbst über Nacht vom Ehrenpräsidenten zum Parteichef befördert. Er hat den Reform-UK-Wahlkampf als «One-Man-Roadshow» organisiert. Unangefochten befehligt er seine Truppen. Und ist zuversichtlich, über den südostenglischen Wahlkreis Clacton-on-Sea diesmal ins Parlament einzuziehen.
Kaum ein Tag vergeht, an dem Farage nicht Schlagzeilen macht. Er verspricht enorme Steuerkürzungen, härteste Anti-Immigrations-Massnahmen, die Kündigung der Europäischen Menschenrechtscharta durch London, ein Ende der Rundfunkgebühr der BBC.
Auf Tiktok sticht er die Konkurrenz aus
In kürzester Zeit ist Reform UK von 30’000 auf über 50’000 Mitglieder gewachsen. Ihm ist es gelungen, neben den eher älteren Fans der Brexit-Jahre diesmal auch jüngere Wähler anzusprechen. Seine Tiktok-Präsenz, seine cleveren kleinen Videos stechen die aller anderen Politiker aus.
Inzwischen prophezeien die Meinungsumfragen Reform UK 15 bis 16 Prozent der Stimmen, während die Konservativen Mühe haben, landesweit auf über 20 Prozent zu kommen. Ein gutes Abschneiden der Partei hätte unmittelbare Folgen. Da Reform UK vor allem den Tories Stimmen abnähme, würde die Partei den dramatischen Kollaps der Konservativen in vielen Wahlkreisen beschleunigen und Labour zu einem überproportionalen Triumph verhelfen.
In 150 der 650 Wahlkreise des Vereinigten Königreichs hofft Reform UK am 4. Juli zur zweitstärksten Partei aufzusteigen. Farage will sich im öffentlichen Bewusstsein etablieren als massgebliche Stimme der künftigen Opposition.
Das verhasste Establishment
Kuriose Züge hat Farages Feldzug gegen «das Establishment» natürlich schon, wo der 60-jährige Ex-Börsenmakler, der gern im besten Anzug auftritt und sich am liebsten im Range-Rover-Konvoi durch die Strassen steuern lässt, den Volkstribun, den Heilsbringer der Vergessenen mimt für die Massen.
Aber das Geschick, mit dem er Ressentiments aufrührt, setzt ihn ab. Die weitläufige Frustration seiner Landsleute über schlechtere Lebensbedingungen führt er auf unfähige Politiker in den Reihen der «alten» Parteien, zumal in der Frage der Einwanderung, zurück.
Denn Immigration ist bis heute sein wichtigstes Thema. Dass die Brexit-Hoffnungen sich nicht erfüllt haben, räumt er ein. Aber mit ihm, dem Brexit-Wegbereiter, habe das nichts zu tun. Es liege stattdessen daran, dass die schlappe Tory-Regierung nichts aus dem Brexit zu machen gewusst habe und wisse.
Nunmehr will Farage alle «unnötige Immigration» unverzüglich stoppen, Firmen zur Zahlung einer «Migrantensteuer» zwingen, wenn sie Ausländer beschäftigen wollen, und sämtliche illegal anreisenden Migranten und Flüchtlinge auf ferne britische Inseln verbannen.
Einen langen Weg hat Nigel Farage zurückgelegt, seit er in den Neunzigerjahren die Anti-Europa-Partei Ukip mitbegründete. Als einen «Haufen Verrückter, Totalbekloppter und heimlicher Rassisten» beschimpfte der frühere konservative Premierminister David Cameron Ukip einmal.
Er will kein Rassist sein
Dass er rassistisch sei, hat Farage immer bestritten. Das hat ihn nicht davon abgehalten, Regierungschef Rishi Sunak vorzuwerfen, er habe im Grunde kein echtes Verständnis «für unsere Kultur». Daraufhin wurde er beschuldigt, er habe angespielt auf Sunaks indische Herkunft. Aber der Reform-UK-Chef besteht darauf, er habe gemeint, dass der superreiche Sunak (lesen Sie hier, wie Sunaks Reichtum schon früh ein Thema war) «zu Normalbürgern absolut keine Beziehung» habe, «wegen seiner Klassenzugehörigkeit und wegen der Welt der Privilegien, in der er lebt».
Aufregung hat in den letzten Tagen auch Farages erneut geäusserte Überzeugung ausgelöst, der Westen habe Wladimir Putin zur Invasion der Ukraine im Grunde «erst provoziert» – wobei er, Farage, die Invasion natürlich auch verurteile. Diese Bemerkung scheint Reform UK etwas Unterstützung gekostet zu haben, wiewohl nicht sehr viel.
Dem Politiker scheint das alles nichts anzuhaben. Selbstbewusster denn je präsentiert sich Farage zurzeit den Wählern auf allen Kanälen und in Clacton-on-Sea. Er hält die Zeit für sich und seine Mitstreiter für gekommen: «Eine Menge Leute werden sich wundern am 4. Juli.»
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