Die Open Airs sind eine lebendige Schweizer Tradition – ihre Anfänge waren brav, aber revolutionär

Open Airs sind laut und lang. Bis tief in die Nacht wird getanzt und getrunken, bis der Alltag vergessen ist. In der sonst so ruhigen Schweiz liebt man diesen Exzess besonders – dieses Wochenende etwa finden in St. Gallen, in Interlaken, in Ascona Konzertreihen unter freiem Himmel statt.

Open Airs gibt es hierzulande in gross und klein. Wie viele genau, ist unklar. Das Bundesamt für Kultur schreibt, kein anderes Land habe eine ähnliche Dichte an Open Airs mit «europaweitem Ruf» wie die Schweiz. Sie stehen darum seit 2017 auf der Liste der lebendigen Traditionen.

St. Galler, Paléo, Gurten: Die grossen Festivals sind teilweise mehr als vierzig Jahre alt. Heute verkaufen sie in professioneller Aufmachung ein Wochenende Eskapismus. Doch in ihren Anfängen boten sie idealistische Refugien, in denen man vom gesellschaftlichen Wandel träumte.

Wer hat’s erfunden?

Welches das erste Open Air in der Schweiz war, darüber lässt sich streiten. Das Open Air Bischofszell bezeichnet sich als das älteste. 1971 wurde es von der katholischen Jugendorganisation «Team 69» Sitterdorf zum ersten Mal organisiert. Draussen fand es jedoch erst 1974 zum ersten Mal statt – wegen Regen musste es die Jahre davor in der Turnhalle stattfinden.

Das erste dokumentierte Open-Air-Festival ist jenes auf der Lenzburg, organisiert von verschiedenen Folkklubs der Schweiz. Hinter den dicken Burgmauern trafen sich 1972 rund 700 Gäste, inspiriert von der Hippie-Bewegung der USA. Neben den Hauptkonzerten im Rittersaal fanden im Innenhof spontane Konzerte und Jam-Sessions statt.

Die Musiker hätte anfangs im Viertelstundentakt gewechselt, erzählt Urs Hostettler, der das Festival seit Anbeginn miterlebt und ab 1976 im Komitee mitgewirkt hat. Das Publikum lauschte im Sitzen den kaum verstärkten Klängen von Banjos, E-Bässen oder akustischen Gitarren. Alkohol war verboten. Um zehn Uhr am Abend war Schluss. So lauteten die Auflagen, an die sich die Veranstalter streng hielten. Bald interessierten sich auch Menschen von ausserhalb der Folkszene für das Festival. «Bei der dritten Durchführung mussten Tickets verlost werden, weil der Andrang zu gross war», erzählt Hostettler.

Das Ende auf der Lenzburg

Mit heutigen Festivals ist das Open Air auf der Lenzburg kaum zu vergleichen. Die Tontechnik passte in einen kleinen Bus. Das Festival hatte ein Budget von 20 000 Franken, davon ging fast die Hälfte an die Miete des Schlosses. Die Zeit auf der Burg war zum Austausch da, die Musik stand sinnbildlich für die gegenseitige Inspiration durch die politischen Texte und die Melodien aus verschiedenen Ländern. Das Komitee setzte Schwerpunkte, bot mal Schweizer Volksmusikern eine Bühne, mal Musikern der verschiedenen Immigrantengruppen. «Wir wollten etwas Neues erschaffen, eine Gegenkultur», sagt Hostettler.

Auf der Lenzburg seien die Musiker bloss für Spesen aufgetreten, auch die professionellen, sagt Hostettler. Bis andere Festivals mit grösserem Budget anfingen, Musikern Gagen zu zahlen. Das setzte das Festival auf der Lenzburg unter Druck. «Doch wir hielten an unserer Kultur fest», sagt Hostettler.

1981 war auf der Lenzburg Schluss. Jedoch nicht wegen fehlender Gäste. Das Schloss wurde renoviert und zum Museum umgenutzt, der Innenhof mit Rosenbeeten bepflanzt. An ein Festival auf der Burg war nicht mehr zu denken. Die Jugend eroberte sich derweil neue Freiräume in den Städten. Sie zog es auf die Strassen.

Von der Gegenkultur zum Mainstream

Andere Folkfestivals, die in den 1970er Jahren gegründet wurden, haben bis heute überlebt und sich zu grossen Rockfestivals entwickelt. 1976 fand das First Folk Festival im alten Gemeindehaus von Nyon statt, dann zog es nach Colovray an die Ufer des Genfersees, später an den Fluss Asse im Norden Nyons. Heute ist es das grösste Open Air der Schweiz: das Paléo, wie es seit vierzig Jahren heisst. 1977 fand das erste Mal ein Folkfestival auf dem Gurten statt – dort traten die gleichen Acts auf wie auf der Lenzburg. Der Platz war jedoch unbeschränkt. Das Festival wuchs und entwickelte sich zum Rockfestival.

Mit der steigenden Zahl der Festivals wurde auch die Musik diverser. Zu Folk und Rock kamen Jazz und Pop, später Rap und Hip-Hop. Die angesprochene Kundschaft vergrösserte sich.

die open airs sind eine lebendige schweizer tradition – ihre anfänge waren brav, aber revolutionär

Auf dem Gurten fand schon 1977 erstmals ein Festivals statt. Wo damals Folk-Bands aufspielten, treten dieses Jahr Künstler wie Nelly Furtado oder Patent Ochsner auf. Simon Tanner / NZZ

Christoph Bill, Präsident des Branchenverbands der Konzert- und Festivalveranstalter SMPA, vermutet, dass in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre die breite Masse auf die Open Airs aufmerksam wurde. Grosse Firmen wie Migros oder Wincare stiegen als Sponsoren ein und verlosten Tickets. Die Open-Air-Szene begann sich zu professionalisieren und zu kommerzialisieren. Sie wurde eine eigene Branche.

Bill hat die Professionalisierung der Open-Air-Szene selbst miterlebt. Seit 1992 ist er im Organisationskomitee des Heitere-Open-Airs tätig. Parallel zur Professionalisierung seien auch die Ansprüche der Gäste und der Künstler sowie die Auflagen der Behörden gestiegen, sagte er. Das Zofinger Komitee war eines der ersten, die 1994 eine Aktiengesellschaft gründeten, um sich finanziell abzusichern. Denn Open Airs zu organisieren, ist mit grossen Risiken verbunden, wie so üblich in der Konzertbranche.

Das Heitere gehört heute zu den bekanntesten Festivals der Schweiz. Und doch bekommt laut Bill nur ein Mitglied des Organisationskomitees einen Monatslohn ausbezahlt. Alle anderen würden je nachdem entlöhnt, was am Ende übrig bleibe. Auch Bill als Festivalleiter. Die Helfer hingegen würden im Stundenlohn entschädigt. Das ist aussergewöhnlich. Andere Open Airs sind vom Einsatz Freiwilliger abhängig.

Die lokale Verankerung vieler Open Airs sei etwas Spezielles in der Schweiz, sagt Bill. Die Leute aus der Region engagierten sich als Helfer oder kauften Tickets – auch wenn es regne oder das Line-up fader ausfalle. Lokale Firmen seien zudem wichtige Sponsoren.

Vielleicht ist das auch eine Erklärung, warum die Zahl der Schweizer Open Airs so hoch bleibt. «Wir sprechen schon lange von einer Sättigung, aber die Zahl scheint am höchsten Punkt dieser Sättigungskurve zu stagnieren», sagt Bill. Einige der Open Airs hätten in den letzten Jahren aufgeben müssen, zum Beispiel weil bezahlbare Acts fehlten, die Kosten stiegen oder die Ticketkäufe ausblieben. Doch immer wieder kämen neue dazu: Die Schweizer Open-Air-Tradition lebt.

die open airs sind eine lebendige schweizer tradition – ihre anfänge waren brav, aber revolutionär

Dem Alltag trotzen zu lauter Musik: Open Airs bieten heute Eskapismus für ein Wochenende. Christoph Ruckstuhl / NZZ

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