Eine Klientin über die IV: «Die helfen mir nicht, die verwalten mich nur»

eine klientin über die iv: «die helfen mir nicht, die verwalten mich nur»

Michaela wird bewusst, wie schnell man sozial absteigen kann – auch wenn man, wie sie, hochqualifiziert ist und immer gearbeitet hat. Illustration Anja Lemcke / NZZ

Michaela* (Name geändert) denkt, dass es nun aufwärtsgeht. Endlich hat sie wieder einen Job. Vor achtzehn Monaten wurden der 32-Jährigen ein Burnout und eine Depression diagnostiziert. Seither hat sie nicht mehr gearbeitet. Das Gefühl, gebraucht zu werden, hat ihr gefehlt. Deshalb freut sie sich, ihrer IV-Beraterin mitzuteilen, dass sie nun einen befristeten Teilzeitjob im Verkauf angetreten hat.

Sie möchte sich die Tätigkeit als Arbeitsversuch anrechnen lassen. Umso erstaunter ist sie ob der Reaktion der IV-Beraterin: «Sie sind aber sehr motiviert. Den Arbeitsversuch machen wir erst mit einem richtigen Job.» Gemeint war ein Job, der den Qualifikationen und dem Lohnniveau der früheren Arbeitsstelle entspricht. Michaela versteht die Welt nicht mehr. «Ich wollte so schnell wie möglich wieder arbeiten. Das sollte doch auch im Interesse der IV sein.»

Davon ist auch Wolfram Kawohl überzeugt. Er ist Ärztlicher Direktor bei der psychiatrischen Privatklinik Clienia Schlössli in Oetwil am See. «Arbeit bindet den Menschen in eine Tagesstruktur ein, man erfährt Wertschätzung und Sinnhaftigkeit und kann soziale Kontakte pflegen. Das ist bei der Genesung von einer psychischen Erkrankung essenziell.» Es sei klar, dass jemand mit einer schweren Depression nicht arbeiten könne. Dennoch neigten sowohl manche Hausärzte als auch manche Psychiater dazu, Patienten zu lange krankzuschreiben.

Man müsse sich auf das fokussieren, was bei den Betroffenen noch möglich sei, und nicht auf das, was alles nicht mehr gehe. Doch leider seien sowohl das Gesundheitssystem als auch die rechtlichen Grundlagen der Integration und Inklusion vielfach noch stark defizitorientiert.

Späte Frühintervention

Michaela kennt sich mit der Defizitorientierung der IV bestens aus. Als sie erkrankte, befand sie sich in einer befristeten Anstellung. Als die Anstellung auslief, empfahl ihr eine unabhängige Rechtsberatung, sich so weit wie möglich gesundschreiben zu lassen, damit sie durch das Regionale Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) in Teilzeit vermittelbar sei und Geld von der Arbeitslosenversicherung beziehen könne, bis sie sich erholt und eine neue Stelle gefunden habe.

Die Alternative dazu wäre das Sozialamt. Da wird Michaela zum ersten Mal bewusst, wie schnell man sozial absteigen kann – auch wenn man, wie sie, hochqualifiziert ist. Seit Abschluss ihres Studiums hat sie stets als Sozialpädagogin gearbeitet.

Bei vielen Burnout-Patienten ist es eine ungute Kombination aus privatem und beruflichem Stress, die schliesslich zu einer grossen Erschöpfung und innerer Leere führt. So war es auch bei Michaela.

Das RAV meldet Michaela bei der IV an, damit sie an den Angeboten zur Wiedereingliederung teilnehmen kann. Es handelt sich dabei um die sogenannte Frühintervention. Mit gezielten Massnahmen sollen erkrankte Personen so schnell wie möglich wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden.

Bei Michaela beginnt dieser Prozess neun Monate nach ihrer Diagnose. Davor ging bei ihr gar nichts mehr: «Bereits kleine Aufgaben wirkten auf mich bedrohlich. Nach dem Einkaufen musste ich mich zu Hause sofort hinlegen. Die Antidepressiva schlugen nicht an.» Die Existenzängste belasteten ihre Psyche zusätzlich. Das Geld von der Arbeitslosenversicherung war knapp, und die Uhr tickte. Nach zwei Jahren werden Arbeitslose ausgesteuert. Nächster Halt: Sozialamt.

Einen Termin für ein Erstgespräch bei der IV erhält Michaela erst ein Jahr nach ihrer Krankschreibung. Und das auch erst, nachdem das RAV Druck gemacht hat. Michaela erklärt der IV-Beraterin, dass es für sie keine Option ist, in ihren Ursprungsjob zurückzukehren. Das attestierte ihr auch ihr behandelnder Psychiater. Die Belastung, der sie als Sozialpädagogin ausgesetzt war, hatte massgeblich zu ihrer psychischen Krise beigetragen. Das Risiko eines Rückfalls wäre zu hoch.

Massnahmen zu wenig individuell

Die IV weist Michaela einen Job-Coach zu. Er schlägt ihr einen von der IV subventionierten Bürojob vor, begleitet sie aber nicht zum Kennenlerngespräch bei der Firma. Michaela geht allein hin, sie fühlt sich unwohl. Der Job-Coach hatte den Arbeitgeber zuvor nicht über Michaelas Situation informiert und auch nicht darüber, wie ihre Wiedereingliederung ablaufen soll. Zu einer Anstellung kommt es nicht.

Helene Hartmann von Hartmann Jobcoaching arbeitet im Auftrag verschiedener Sozialdienste im Kanton Aargau als Job-Coach. Sie sagt: «Eine Klientin, die frisch aus der Psychiatrie kommt, schickt man nicht allein an das erste Vorstellungsgespräch.» Überhaupt funktioniere Eingliederung nur mit einer engen Begleitung durch einen Job-Coach.

Die IV-Berater haben hingegen meist nur Zeit für ein paar wenige Gesprächstermine. Sie kümmern sich hauptsächlich um Administratives. Dadurch haben sie die Macht über ihre Klienten. Sie entscheiden, welchem Klienten welche Massnahme bezahlt wird.

Michaela empfiehlt die IV-Beraterin als Nächstes einen Wiedereingliederungskurs für Akademiker. Ein Platz wird aber erst in drei Monaten frei. Michaela wird zunehmend unruhig, denn die Frist der Arbeitslosenversicherung läuft weiter. Sie denkt darüber nach, selbst eine Stelle zu suchen. Aber sie hat Angst, dass sie psychisch noch zu wenig stabil ist für ein 80-Prozent-Pensum. «Ausserdem hatte ich keine Ahnung, welche Chancen ich am Arbeitsmarkt abseits meines erlernten Berufs habe.»

Also wartet sie drei Monate, nur um festzustellen, dass ihr der Wiedereingliederungskurs nichts bringen wird. «Man sprach mit mir wie mit einem Kleinkind.» Man sagt ihr, sie könne sich nun in den Büroräumlichkeiten, die die IV für den Kurs zur Verfügung stelle, zwei Stunden pro Tag mit einem eigenen Projekt beschäftigen. Ein Teilnehmer recherchiert zu Schrebergärten, ein anderer zu Wanderrouten.

Sie wolle das Angebot nicht per se schlechtreden, sagt Michaela. Menschen mit einer psychischen Erkrankung könne ein solcher Kurs durchaus helfen, wieder in eine Tagesstruktur zurückzufinden. Sie hätte jedoch erwartet, dass man bei der IV merke, dass sie in der Genesung bereits weiter fortgeschritten sei. Die Grundlagen für die Einschätzung des Gesundheitszustands hätte die IV gehabt. Denn sie ist im Besitz sämtlicher Krankenakten und kann sich auch mit den behandelnden Ärzten austauschen.

Raus aus dem System IV

Schliesslich sucht Michaela selbst einen temporären Teilzeitjob im Verkauf. Die Arbeit tut ihr gut, es geht ihr gesundheitlich besser. Trotz drohender Aussteuerung in knapp zwölf Monaten nach fast zwei Jahren Krankschreibung sagt die IV-Beraterin zu Michaela, sie solle die Ruhe bewahren und nicht in Aktivismus verfallen. Es bleibe noch genügend Zeit. In diesem Moment geht Michaela nur noch eines durch den Kopf: «Die sind nicht da, um mir zu helfen, sondern um mich zu verwalten.»

Da reicht es ihr. Sie geht auf volles Risiko, sucht sich selbst einen Job und findet eine Stelle mit einem 80-Prozent-Pensum. «Ich wollte nur noch raus aus dem System IV, und das, obwohl ich mir nicht sicher war, ob ich es mental schaffen würde, bereits wieder 80 Prozent zu arbeiten.» Einen erneuten psychischen Zusammenbruch kann sie sich in den nächsten zwei Jahren nicht leisten. Denn um wieder Anspruch auf Arbeitslosengelder zu haben, muss man ab der Abmeldung vom RAV während zweier Jahre wieder mindestens zwölf Monate arbeiten. Bei einem Rückfall müsste sie beim Sozialamt vorstellig werden.

Lange Wartezeit bis zum Rentenentscheid

Michaela führt nun wieder ein Leben in der Mitte der Gesellschaft. Manche erholen sich hingegen nie mehr ganz von einer psychischen Erkrankung und sind auf eine IV-Rente angewiesen. Bis es so weit ist, durchlaufen auch sie die Frühintervention bei der IV.

Dabei spult die IV ihr übliches Programm, bestehend aus Job-Coach, verschiedenen Kursen und Praktika, ab. Gibt es nach einem Praktikum keine Anschlusslösung, wird die Frühintervention beendet, und die Rentenprüfung beginnt. «Da macht es sich die IV oft zu einfach», sagt Helene Hartmann. Denn sobald eine Rente gesprochen wurde, werden die Massnahmen zur Wiedereingliederung eingestellt.

Eine 55-jährige Betroffene berichtet, dass es neun Monate dauerte, bis sie wusste, ob und wie viel Rente sie erhalten werde. Die Ungewissheit, wie es weitergeht, empfand sie als sehr belastend. Laut der SVA Zürich entsprechen neun Monate Wartezeit etwa dem Durchschnitt.

Das liegt daran, dass es oft mehrere Wochen dauert bis behandelnde Ärzte ihren Bericht für die IV erstellen. Braucht es ein Gutachten von einer medizinischen Abklärungsstelle, dauert es allein schon bis zum Untersuchungstermin bis zu einem Jahr. Der IV-Entscheid verzögert sich auch, wenn der Gesundheitszustand noch nicht stabil ist, eine Therapie läuft oder eine Operation ansteht.

Für die Betroffenen laufen die Fristen der Arbeitslosen- und der Taggeldversicherung währenddessen weiter. Wer keine Rente zugesprochen bekommt, landet auf dem Sozialamt. Dort gibt es dann abermals Wiedereingliederungsmassnahmen.

Die Erfahrungsberichte der Betroffenen legen nahe, dass der IV die Transformation von einer Institution, die lange Zeit primär für die Prüfung von Rentenansprüchen zuständig war, hin zu einer Integrationsversicherung noch nicht gelungen ist. Die Grundlagen dafür wurden zwar mit den Gesetzesrevisionen 2008, 2012 und 2022 geschaffen. In Michaelas Fall wurden Massnahmen wie Job-Coach und Kurse, die immerhin mehrere tausend Franken kosten, wenig sinnvoll eingesetzt.

* Name geändert – Name ist der Redaktion bekannt.

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