Als eines von ganz wenigen Ländern der Welt holen die Malediven all ihre Jihad-Reisenden zurück. Kann das gutgehen?

als eines von ganz wenigen ländern der welt holen die malediven all ihre jihad-reisenden zurück. kann das gutgehen?

Frauen und Kindern in al-Hawl, einem Flüchtlingslager in Nordsyrien ;– Heimat von etwa 72 000 Personen aus den ehemaligen IS-Gebieten. Kate Geraghty / Fairfax Media / ; Getty

Es hatte Anzeichen dafür gegeben, dass Saba aufbrechen würde. Ihre Kinder hatten Verwandten erzählt, dass sie bald nach Syrien reisen würden. Und wenn Saba selbst über den Islamischen Staat (IS) sprach, die Terrororganisation, die kurz zuvor ein Kalifat in Syrien und im Irak ausgerufen hatte, dann klang sie fast schwärmerisch, als habe das Leben dort etwas Glamouröses. Ihr Mann nannte andere Familienmitglieder Abtrünnige, obwohl diese selber gläubige Muslime waren.

Dann auf einmal war Saba weg. 2017 reiste sie mit ihrem Mann und den Kindern von den Malediven nach Syrien, um sich dem IS anzuschliessen.

Die Malediven sind weltbekannt als Feriendestination. Eine Inselgruppe mit Stränden so weiss, dass sie blenden, umgeben von Meer so blau wie im Reiseprospekt. Touristen aus aller Welt landen auf dem Flughafen ausserhalb der Hauptstadt Male, Schnellboote bringen sie in ihre Luxusresorts. Wenn sie sich umdrehen nach Male, sehen sie die grosse Moschee mit dem blauen Dach und dahinter die Stadt, eng bebaut. Der Platz ist längst aufgebraucht.

Gerade einmal 500 000 Menschen leben auf den Malediven, die meisten in der Hauptstadt. Mindestens 200 Maledivier schlossen sich zwischen 2014 und 2019 dem IS an. Relativ zur Bevölkerungszahl sind einzig aus Tunesien mehr Kämpfer in das Kalifat der Terrororganisation gereist.

Seit dem Fall des Kalifats sind Tausende ausländische Kämpfer und ihre Familien in Syrien gestrandet, die meisten leben seit Jahren unter katastrophalen Bedingungen in Gefangenenlagern im Nordosten. Bis heute weigern sich viele europäische Staaten diese sogenannten Jihad-Reisenden heimzuholen, auch die Schweiz.

Hier könnte die Geschichte zu Ende sein. Die Malediven aber haben beschlossen, alle Staatsangehörigen, die das Kalifat überlebt haben, in die Heimat zurückzuholen und zu reintegrieren. Zum ersten Mal überhaupt geben die Verantwortlichen einem Journalisten Einblick in ein Programm, das auch ein Wagnis ist.

Alles fing mit den Angehörigen an

Auf der Überfahrt von Male muss Anwar Naeem fast schreien, so laut ist der Bootsmotor. Naeem ist der Direktor des National Reintegration Center, kurz NRC. Er ist ein freundlicher, runder Mann, der es bald aufgibt, über den Lärm hinweg eine Unterhaltung zu führen. Zwanzig Minuten entfernt von Male liegt die Insel Himmafushi. Beim Surfcenter rechts, zwischen einem Gefängnis und einer Drogenentzugsklinik, steht das NRC. Auf der anderen Inselseite: die «Bikini-Beach».

«Alles hat mit den Angehörigen angefangen», sagt Naeem, angekommen in der Ruhe seines Büros. Nach dem Fall des Kalifats forderten die Angehörigen, dass ihre verschwundenen Familienmitglieder auf die Malediven zurückgeholt würden. Denn nicht nur waren mindestens 200 Maledivier ins Kalifat gereist – im Irak und in Syrien sind laut den Behörden auch 50 Kinder geboren worden, die mindestens einen maledivischen Elternteil haben.

Weil auf den Malediven so wenige Menschen leben, haben die wenigen hundert Angehörigen politisches Gewicht. Um sich ihre Stimmen zu sichern, versprachen Politiker in Wahlkämpfen, die IS-Reisenden zurückzuholen. Um nach deren Rückkehr deren Reintegration sicherzustellen, wurde 2022 das NRC eröffnet, und Naeem übernahm die Leitung. Er sagt: «Wir wissen nicht, ob es funktioniert. Wir müssen abwarten.»

Das NRC ist umgeben von hohen Mauern mit Stacheldraht, aber drinnen erinnert nichts an ein Gefängnis. Naeem nennt die Menschen hier «clients», Klienten. Sie leben in grau angemalten Häusern mit kleinen Vorplätzen aus Sand. In einem der Häuser lebt seit kurzem Saba. Sie selber darf nicht mit Medien sprechen. Es sind ihre Verwandten, die ihre Geschichte erzählen. Saba heisst eigentlich anders, ihre Verwandten möchten Details wie ihr Alter oder die Zahl ihrer Kinder nicht veröffentlicht wissen – die Malediven sind klein, und man kennt sich.

Die Rückkehr von Frauen und Kindern hat Priorität

Sabas Mann wurde kaum ein Jahr nach ihrer Ankunft in Syrien getötet. Sie heiratete kurz darauf einen anderen Kämpfer. Sie gebar in Syrien weitere Kinder. Auch ihr zweiter Ehemann kam später um. Mit ihren Verwandten blieb sie über die Jahre sporadisch in Kontakt über Telegram. Sie hat sich bei ihnen nie entschuldigt, dass sie mit ihren Kindern verschwunden ist. Die Verwandten tragen ihr das nach.

Nach dem Ende des Kalifats lebte Saba in Idlib, einer von syrischen Rebellen kontrollierten Region in Nordsyrien. Im Januar dieses Jahres brachte sie ein Evakuierungsflug aus der Türkei zurück auf die Malediven. Die Regierung flog damals 21 Personen heim, sie alle leben jetzt im NRC. 15 Kinder, 5 Frauen, ein Mann.

«Die Männer, die Kämpfer, interessieren uns nicht so sehr. Uns geht es um die Frauen und Kinder, es ist nicht fair, dass sie in Syrien leiden», sagt Naeem.

Die Täter landen im Gefängnis, die Opfer im NRC

Nach der Ankunft hat die Polizei einen Monat Zeit, die grosse Frage zu klären: Sind die Rückkehrer Opfer oder Täter? Täter sind solche, die freiwillig gingen, sich also bewusst einer Terrororganisation anschlossen – und damit maledivische Gesetze brachen. Opfer sind jene, die nach Syrien gelockt wurden, etwa von ihrem Ehemann.

Die Täter müssen ins Gefängnis, das NRC ist für die Opfer. Nach dem ersten Monat beginnt dort der Reintegrationsprozess. Bei den Kindern geht es erst einmal darum, den Schulstoff aufzuholen. Man kann ihnen zusehen im NRC, wie sie in Kleinklassen lernen. In die Schulzimmer sind Fenster zum langen, weiss gefliesten Gang eingelassen. Es gibt ein Spielzimmer, auf dem Teppich prangt eine Giraffe.

Bei den Erwachsenen geht es zunächst darum, einen strukturierten Alltag zu schaffen: aufstehen um 5 Uhr, schlafen um 22 Uhr. Sie können im Zentrum Backen oder Löten lernen. Und natürlich geht es viel um Religion. «Wir bringen Gelehrte hierher und unterrichten die Klienten im moderaten, im korrekten Islam, den wir hier kennen», sagt Naeem. Sie wollten Zweifel säen im Glaubenssystem der IS-Reisenden, oft fehle es ihnen an einem grundlegenden Verständnis des Islam, sagt Naeem.

Viele der Frauen sind desorientiert und verwirrt

Masha Mohammed ist verantwortlich für die psychologische Evaluierung im NRC. Sie sagt, die Familien hier hätten «Unmenschliches» erlebt, viele hätten noch immer Albträume. Mohammed hat sich auf Deradikalisierung spezialisiert, sie hat schon in Gefängnissen mit Islamisten gearbeitet, charismatischen Männern, schwer zu erreichen für die Deradikalisierungsexpertin, weil sie eine tiefe moralische Überzeugung hätten, im Recht zu sein.

Die Frauen im NRC seien anders, sagt Mohammed, sie seien «in einem konstanten Zustand der Desorientierung und Verwirrung». Da sei eine extreme Angst vor Gott, Angst, nicht aufzuwachen zum Morgengebet, Angst, dass die Kinder den Koran nicht richtig rezitieren lernen, und eine extreme Wut auf diese Kinder, wenn sie beim Rezitieren tatsächlich Fehler machen.

Mohammed betont, dass die Familien in ihrem Zentrum Opfer seien und nicht Täter, und bei den Kindern zumindest ist der Fall klar: Keines hat selber entschieden, sich dem IS anzuschliessen. Bei den Erwachsenen ist der Fall komplexer. Wurden sie tatsächlich alle gegen ihren Willen nach Syrien gelockt? Mohammed sagt, sie kenne das Narrativ der «bösen Opfer», Opfer, die auch Täter sind. «Am Ende geht es um Menschlichkeit», sagt Mohammed, man könne die Kinder und ihre Eltern nicht einfach in Syrien zurücklassen. «Sie sind unsere Verantwortung, ob wir wollen oder nicht.»

Unsicherheit darüber, wen man zurückholt

Die Rückführung der Familien hat auf den Malediven eine Kontroverse ausgelöst. Da sind zunächst die Kosten: Allein der Charterflug aus Syrien kostet 200 000 Franken, der Betrieb des NRC kostet jährlich bis zu 475 000 Franken, die Löhne der Mitarbeiter nicht mitgerechnet. Die Rückkehrer werden mindestens sechs Monate im NRC leben, dann entscheidet ein Gericht, ob sie deradikalisiert sind. Das Gericht kann den Aufenthalt um weitere sechs Monate verlängern.

Aber es gibt auch eine grundsätzliche Unsicherheit darüber, wen man da zurückholt. Selbst in Sabas Familie sind sie nicht sicher: Ist sie Opfer oder Täterin? Eine Verwandte ist überzeugt, dass sie von ihrem früheren Ehemann manipuliert worden ist. Eine andere sagt, sie sei aus freien Stücken gegangen, das sei doch klar. Alle Angehörigen sind verletzt, dass Saba überhaupt aufbrach.

Niemand spricht gerne über Radikalisierung auf den Malediven. Das Land lebt vom Tourismus, und Islamismus ist schlecht fürs Geschäft. Einer der wenigen, die dazu geforscht haben, ist Azim Zahir von der University of Western Australia. Er sagt, die Radikalisierung habe nach dem verheerenden Tsunami begonnen, der 2004 auch die Malediven traf. «Die Malediven waren verwundbar, der Staat war komplett fokussiert auf die Katastrophenhilfe. Das gab jenen Raum, die kamen, um zu rekrutieren», sagt Zahir.

Es gebe strukturelle Gründe, die junge Menschen zu den Terrorgruppen trieben, sagt Zahir: Armut, Frustration über die Unmöglichkeit des gesellschaftlichen Aufstiegs, das Gefühl, ausgeschlossen zu sein. Die Mehrheit der Angestellten in den Luxusresorts auf den Malediven sind Ausländer. Noch vor dem Aufstieg des IS in Syrien und im Irak seien Maledivier nach Pakistan und Afghanistan gereist und hätten sich dort der Kaida angeschlossen, sagt Zahir.

als eines von ganz wenigen ländern der welt holen die malediven all ihre jihad-reisenden zurück. kann das gutgehen?

Himmafushi, die Insel auf der sich das NRC befindet. Xdanemox / Imago

Der Umgang mit den Rückkehrern ist für alle neu

Kaum jemand will offen über das NRC sprechen. Einer, der an den Abklärungen nach der Rückkehr der IS-Reisenden beteiligt war, stimmt einem Gespräch zu. Er sollte ermitteln, ob die Erwachsenen im NRC Opfer sind oder Täter. Er ist überzeugt, dass sich alle freiwillig dem IS angeschlossen haben, auch wenn sie jetzt etwas anderes behaupten.

Es gebe genug Beweise dafür, aber ein Gericht habe entschieden, dass man die Rückkehrer als Opfer behandle und ins NRC überweise. Damit sei der Fall für ihn erledigt. Dass es grundsätzlich richtig war, sie aus Syrien in die Heimat zu holen, daran zweifelt er nicht.

Anwar Naeem, der Leiter des NRC, spricht derzeit immer wieder auf internationalen Konferenzen, kürzlich war er in Sri Lanka. In mehreren Ländern Asiens gibt es ähnliche Programme wie auf den Malediven. Kirgistan etwa hat alle Frauen und Kinder zurückgeholt, Indonesien überlegt sich ein ähnliches Programm zur Deradikalisierung.

«Es ist neu für alle, niemand hat eine bewährte Methode. Alle experimentieren», sagt Naeem. Er verhehlt nicht, dass internationale Organisationen wie die Uno hinter den Kulissen Druck auf kleinere Länder machen, ihre Staatsangehörigen heimzubringen – ein Druck, dem sich die grösseren Länder Europas offenbar entziehen können.

Bislang hat nur eine Familie das Programm abgeschlossen

Nur eine Familie hat das NRC bereits verlassen. Sie waren die ersten Rückkehrer, ein Jahr blieb die Frau mit ihren Kindern im Zentrum. Sie seien zurück auf ihrer Heimatinsel, sagt Naeem. Nach der Entlassung helfen Mitarbeiter des NRC der Familie, sich in der neuen alten Umgebung wieder zurechtzufinden. Und natürlich: Sie behalten die Familien im Auge. Einmal mussten Naeems Mitarbeiter in der lokalen Schule intervenieren, weil sich andere Eltern beschwert hatten – sie wollten ihre Kinder nicht in dieselbe Klasse schicken wie die Rückkehrer.

In Syrien warten noch 48 Maledivier und Maledivierinnen darauf, evakuiert zu werden. Andere stecken so tief im Krisengebiet fest, dass sie derzeit für die maledivische Regierung unerreichbar sind. Ein paar wollen gar nicht zurück. Irgendwann, so Naeem, werde das NRC schliessen, weil es seinen Zweck erfüllt habe. Zurück bleiben dann die grau angemalten Häuser, das Spielzimmer mit dem Giraffenteppich und ein letzter Rest Unsicherheit, der Preis für das maledivische Wagnis. «Es ist alles in ihren Köpfen», sagt Naeem. «Es ist sehr schwer, sicher zu sein, dass sie deradikalisiert sind.»

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