Vor der britischen Wahl wankt die Hochburg der schottischen Nationalisten. Ist der Traum der Unabhängigkeit ausgeträumt?

vor der britischen wahl wankt die hochburg der schottischen nationalisten. ist der traum der unabhängigkeit ausgeträumt?

In den letzten zehn Jahren war die Scottish National Party (SNP) dank dem Ruf nach Unabhängigkeit die alles dominierende Partei in Schottland, doch nun drohen ihr bei der Unterhauswahl herbe Verluste. Emily Macinnes ;/ Bloomberg / Getty

Gordon McKee ist ein junger Mann mit einer grossen Mission. An diesem sommerlichen Vormittag hat der 29-Jährige im Mittelklassequartier Shawlands im Süden von Glasgow ein Team von vier Parteigängerinnen um sich geschart. Sie wollen in einer sogenannten «Canvassing»-Operation von Tür zu Tür ziehen, um das Gespräch mit Anwohnerinnen und Anwohnern zu suchen, Daten über deren Präferenzen zu sammeln – und sie bei der Unterhauswahl von der Stimmabgabe für die Labour-Partei zu überzeugen.

Als McKee vor eineinhalb Jahren zum Labour-Kandidaten für den Wahlkreis Glasgow South auserkoren wurde, rechnete er sich keine grossen Wahlchancen aus. Nun aber lautet das Ziel der Mission die Rückeroberung Glasgows. Und der Jungpolitiker zieht mit der Hoffnung durch die Strassen, dass ihm am 4. Juli die Wahl zum britischen Parlamentsabgeordneten tatsächlich glücken könnte.

Ärger über Transdebatte

Glasgow ist für die Labour-Partei alles andere als ein unbekanntes Pflaster. Die Industriestadt war während Jahrzehnten eine Hochburg der Sozialdemokraten gewesen – und die Basis für ihre Dominanz in ganz Schottland. Dann löste das Unabhängigkeitsreferendum von 2014 ein politisches Erdbeben aus. Zwar obsiegte das von den Konservativen und Labour angeführte Nein-Lager. Doch hatte die Scottish National Party (SNP) mit ihrer Vision eines unabhängigen und progressiven Schottland viele linksgerichtete Wähler inspiriert und eine neue Generation von Schottinnen und Schotten politisiert.

Nach dem Referendum brach die Unterstützung für Labour wie ein Kartenhaus zusammen. Die SNP wurde in Schottland zur dominanten Kraft, sämtliche Glasgower Sitze im britischen Unterhaus gingen in den vergangenen zehn Jahren immer an die Nationalisten. Auch die Regionalpolitik in Edinburg dominierte die SNP fast nach Belieben.

Die talentierte Regionalpräsidentin Nicola Sturgeon suchte immer wieder die Konfrontation mit der konservativen Regierung in Westminster und argumentierte, der britische Zentralstaat missachte die Interessen der Schottinnen und Schotten. Die Unabhängigkeit wurde zum dominierenden Thema. England und Schottland schienen politisch immer weiter auseinanderzutreiben – bis der Rücktritt von Sturgeon die SNP vor einem Jahr in eine schwere Krise stürzte.

Sehr schlecht auf die SNP zu sprechen ist die rund 60 Jahre alte Dame, die McKee im Vorgarten eines viktorianischen Reihenhauses antrifft. Grossen Ärger löst bei der Wechselwählerin vor allem die Debatte um die Rechte von Transpersonen aus. Als Feministin habe sie einst für Frauenhäuser gekämpft. Nun wolle sie nicht, dass dort künftig auch biologische Männer Zugang erhielten. «Frauen, die sich gegen so etwas wehren, werden gleich als transfeindlich gebrandmarkt. Dabei kenne ich gar keine Transpersonen, wie könnte ich sie also hassen?»

Es ist ein Steilpass, den McKee aufnimmt. Eloquent referiert er zum schottischen Gesetz, das Transpersonen den amtlichen Wechsel ihres Geschlechts per Selbstdeklaration ermöglichen sollte. «Die SNP-Regierung hat das Gesetz völlig falsch aufgegleist und alle Gegner als bigotte Hinterwäldler verunglimpft.» Dabei müsse man den Sorgen Rechnung tragen, wonach sich Männer als Transpersonen ausgeben könnten, um Frauen zu belästigen. «Unsere Gesetze sind nicht auf die 99 Prozent der Bevölkerung ausgerichtet, die nie einen Mord begehen.»

McKee verschweigt, dass auch Labour dem schottischen Gesetz zugestimmt hatte und dass dieses erst durch die konservative Regierung in London blockiert wurde. Der Labour-Chef Keir Starmer hat nun seine Position angepasst: Er will zwar weiterhin das bürokratische Verfahren für den amtlichen Geschlechtswechsel vereinfachen, aber eine gewisse medizinische Prüfung beibehalten. Die Dame scheint mit McKees Ausführungen so weit zufrieden zu sein. Darum erfasst eine der Parteigängerinnen sie in der Datenbank als wahrscheinliche Labour-Wählerin.

SNP in der Krise

Das umstrittene Gesetz über die Selbstdeklaration für Transpersonen stand 2023 am Anfang der SNP-Krise. Richtiggehend um Worte ringen musste die Regionalpräsidentin Sturgeon, als die schottische Justiz einen Vergewaltiger, der sich kurzerhand als Transfrau ausgab, in einem Frauengefängnis internierte. Im Februar 2023 trat die SNP-Chefin zurück – wohl auch mit Blick auf eine sich anbahnende Finanzaffäre der Partei. Wenig später nahm die Polizei Sturgeon vorübergehend fest. Ihr Ehemann, der ehemalige SNP-Generalsekretär Peter Murrell, wurde gar wegen Veruntreuung von Spendengeldern angeklagt.

vor der britischen wahl wankt die hochburg der schottischen nationalisten. ist der traum der unabhängigkeit ausgeträumt?

Die schottische Bevölkerung ist in der Unabhängigkeitsfrage ;gespalten, doch ohne starke SNP dürfte ein zweites Referendum in weite Ferne rücken. Christopher Furlong / Getty

Laut dem Glasgower Politologen John Curtice, der in Grossbritannien als «Umfrage-Guru» bekannt ist, haben der SNP vor allem die Finanzaffäre und der Richtungsstreit um Sturgeons Nachfolge geschadet. Der progressive Humza Yousaf setzte sich nur knapp gegen die Freikirchlerin Kate Forbes durch. Doch Yousaf agierte als Regionalpräsident glücklos und musste Ende April nach einem Streit mit den grünen Koalitionspartnern zurücktreten.

Das Ruder übernommen hat mit John Swinney nun der ehemalige Stellvertreter Sturgeons, der die internen Risse kitten soll. Curtice erklärt in Gespräch, Swinney habe den freien Fall der Nationalisten gestoppt. Doch hat die SNP ähnlich viele Parteichefs verschlissen wie die Konservativen in Westminster, und um die öffentliche Infrastruktur oder das Gesundheitswesen steht es kaum besser als in England. «Viele Wähler haben das Vertrauen in die Kompetenz der SNP als Regierungspartei verloren», sagt Curtice.

Im Extremfall könnte die SNP bei der Unterhauswahl fast zwei Drittel ihrer 2019 gewonnenen Sitze an die Labour-Partei verlieren. Labour steuert auch in England auf einen klaren Sieg zu und dürfte die Konservative Partei nach vierzehn Jahren von der Macht in Westminster verdrängen. Ein Rückschlag für die SNP wäre ein Zeichen dafür, dass die Schottinnen und Schotten der Unabhängigkeit nicht mehr höchste Priorität beimessen. Und sollte die Labour-Partei sowohl in England als auch in Schottland zur stärksten Kraft avancieren, könnte dies den Zusammenhalt innerhalb des Königreichs wieder stärken.

Nationalisten geben nicht auf

Etwa sieben Kilometer südwestlich von Shawlands liegt das Aussenquartier Nitshill im Wahlkreis Glasgow South West. Das Viertel war einst eine Siedlung für die Arbeiter einer Kohlemine. Heute gehört Nitshill zu den ärmsten Gebieten der Stadt mit vielen Sozialsiedlungen und einem hohen Ausländeranteil. An einer öden Strassenkreuzung befindet sich in einem einfachen Backsteinhäuschen das Kampagnenzentrum des SNP-Unterhausabgeordneten Chris Stephens. Im Innern sortieren Mitarbeiter Flyer, Schlüsselanhänger und Poster. Draussen hat sich Stephens breitbeinig wie ein Türsteher aufgestellt, als wolle er signalisieren, dass die SNP Glasgow nicht kampflos aufgeben wird.

Der 51-jährige Gewerkschafter räumt ein, dass die SNP interne Reformen für mehr Transparenz und Basisdemokratie umsetzen müsse. Doch glaubt er, dass die Partei noch immer genug Trümpfe im Ärmel hat, um Labour auszustechen. Gerade muslimische Wähler haben dem Labour-Chef Starmer seine israelfreundliche Positionierung im Gaza-Krieg nicht verziehen, weshalb Stephens offensiv um muslimische Stimmen buhlt. Ein Wahlflyer zeigt ihn an einer Demonstration mit einem Palästinensertuch um den Hals.

Da die Labour-Partei konservative Sitze in England gewinnen will, ist sie unter Starmer ins politische Zentrum gerückt. In Schottland aber ist die Wählerschaft eher linksgerichtet, zudem stösst hier der Brexit bis heute auf Ablehnung. Daher bezeichnet Stephens die Labour-Partei als «mutlos» und unterstreicht linke SNP-Forderungen wie den Ausbau der Kinderzulagen. «Das Schweigen von Labour zum Brexit ist ohrenbetäubend», ergänzt er. «Die SNP ist die einzige Partei, die das Desaster des EU-Austritts für Schottland klar und deutlich benennt.»

Der grösste Trumpf der SNP war bisher stets der Ruf nach der Unabhängigkeit Schottlands gewesen. Im Pub «Brazen Head» südlich des Flusses Clyde sticht diese Karte noch immer. Die Dekoration der Spelunke ist in Grün und Weiss gehalten – den Vereinsfarben des einst von irischen Migranten gegründeten Fussballklubs Celtic Glasgow. Im Gegensatz zu den britischtreuen Anhängern des Stadtrivalen Glasgow Rangers sind die politisch linksgerichteten Celtic-Fans antibritisch. In den letzten Jahren hat sich die Unterstützung für den irischen Nationalismus immer mehr mit dem Ruf nach einem unabhängigen schottischen Staat vermischt.

Bereits am Nachmittag ist das «Brazen Head» voll mit Besuchern, die in ihre Biergläser starren oder am Fernsehen die Spiele der Fussball-Europameisterschaft mitverfolgen. In einer Ecke sitzt ein knorriger Mann mit grauem Vollbart, der sich als Colin vorstellt, aber seinen Nachnamen nicht nennen möchte. Früher habe er Labour gewählt. Dann aber habe die Partei bei der Unabhängigkeitsabstimmung mit den Tories gemeinsame Sache gemacht und das schottische Volk verraten.

Heute vertrete Labour nicht mehr die einfachen Leute, sondern das britische Establishment, sagt Colin. «Egal, welche Partei in Westminster regiert: Die Engländer werden ihre Interessen immer über jene von uns Schotten stellen.» Darum befürwortet Colin die Unabhängigkeit, kann aber nicht sagen, wie sich dieses Ziel realisieren lässt.

Nachdem der britische Supreme Court Pläne zur Abhaltung eines unilateralen Referendums in Schottland für rechtswidrig erklärt hat, lässt auch die SNP eine glaubwürdige Strategie vermissen. Sollten die Nationalisten bei der Unterhauswahl die prognostizierten Verluste einfahren, würde dies auch ihr Mandat schwächen, um in London die Abhaltung eines zweiten Unabhängigkeitsreferendums einzufordern.

Materielle Sorgen

Die Meinungsumfragen legen indes nahe, dass der Vertrauensverlust gegenüber der SNP als Partei nicht mit einem Rückgang der Unterstützung für die schottische Unabhängigkeit einhergegangen ist. «Die Befürworter und Gegner halten sich noch immer etwa die Waage», sagt der Politologe Curtice. «Doch sind die Unterstützer der Unabhängigkeit heute bereit, eine andere Partei als die SNP zu wählen.»

Von dieser Wechselstimmung versucht der Labour-Kandidat McKee zu profitieren: Er zieht mit der Botschaft von Tür zu Tür, mit einer Stimme für Labour könne man den Tories eins auswischen und zugleich der SNP eine Ohrfeige verpassen. McKee ist ein überzeugter Befürworter des schottischen Verbleibs im Vereinigten Königreich. Doch im Abstimmungskampf betont er dies nicht offensiv: «Die Unabhängigkeit wird es in den nächsten Jahren ohnehin nicht geben. Eine Labour-Regierung würde die konkreten Lebensumstände der Leute verbessern, dann könnten wir später immer noch darauf zurückkommen.»

Die Bevölkerung der linksliberalen Hochburg Glasgow South stimmte 2014 sehr deutlich für die Unabhängigkeit. Heute aber brennen vielen Wählerinnen und Wählern tatsächlich ganz andere Fragen unter den Nägeln. Zum Beispiel der alleinerziehenden Mutter und Krankenschwester, die McKee die Türe zu ihrem kleinen Reihenhaus öffnet. Sie klagt über die Inflation, die zunehmende Verwahrlosung in Glasgow oder die gestiegenen Hypothekarzinsen, die das Familienbudget belasteten. «Ich habe zwei Teenagersöhne, zwei Katzen und einen Hund, da bleibt am Ende des Monats nicht mehr viel übrig.»

McKee verspricht wirtschaftliche Stabilität unter einer Labour-Regierung – was Wachstum auslösen und Mittel für Investitionen in die marode Infrastruktur oder den überlasteten Nationalen Gesundheitsdienst (NHS) freisetzen werde. Doch weiss auch McKee, dass die schwierige finanzielle Lage den Handlungsspielraum der künftigen Regierung stark begrenzen wird.

Auf McKees Wahlwerbung prangt in Grossbuchstaben das Wort «Change». Weit weniger klar ersichtlich ist, was die Labour-Partei konkret verändern würde, wenn sie am 4. Juli an die Macht käme. Würde eine Labour-Regierung von Keir Starmer nicht für einen spürbaren Aufschwung sorgen, könnte dies die SNP rasch wieder stärken und dem Ruf nach Unabhängigkeit in Schottland zusätzlichen Auftrieb verleihen. «Wir werden nicht alle Probleme über Nacht lösen können», sagt Gordon McKee. «Ich hoffe, ihr werdet uns nicht enttäuschen», entgegnet die Wählerin trocken.

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