Thomas Mann sagte: «Der Russe ist der menschlichste Mensch.» Die Deutschen und die Russen verbindet eine alte Faszination
Russland, unwiderstehlich: ;Hans Castorp (Christoph Eichhorn) küsst die Hand von Clawdia Chauchat (Marie-France Pisier) in der Verfilmung von «Der Zauberberg», 1981. United Archives / Imago
«Was für den Russen gesund ist, bringt dem Deutschen den Tod» – so lautet ein russisches Sprichwort. Deutsche und russische Autoren haben den Gegensatz beider Nationen oft gestaltet. Der berühmteste Deutsche in der russischen Literatur ist Stolz, Oblomows bester Freund aus Iwan Gontscharows gleichnamigem Roman aus dem Jahr 1859. Stolz ist der tüchtige Deutsche, der nicht verstehen kann, dass Oblomow kaum aus der Horizontalen herausfindet. Gontscharow ist allerdings mit seiner Gegenüberstellung des aktiven Deutschen und des passiven Russen nur deshalb ein künstlerischer Wurf gelungen, weil er gerade keine Schwarz-Weiss-Malerei betreibt.
Das Nichtverstehen des geheimnisvollen Vorgangs der Kapitalbildung bildet die ideologische Grundlage des Romans. Die Leser erfahren, dass Stolz durch geschickte Investitionen sein väterliches Erbe fast verachtfacht hat. Aus der unaufgeklärten Sicht der Neider erscheint solcher Reichtum nachgerade als dämonisch. Man ergeht sich in Spekulationen darüber, dass Stolz eine Druckmaschine gekauft habe und durch Falschgeld zu seinem Reichtum gekommen sei. Den abstrakten Profitmöglichkeiten des Kapitalismus wird sogar die Steuerpacht mit ihren Bestechungsgeldern als zumindest verstehbare Gewinnschöpfung vorgezogen.
Grundsätzlich gibt es im Roman «Oblomow» zwei Arten des Geldverdienens: Der «russische» Profit ist rein additiv und ergibt sich aus der Summe vieler Einzelgeschäfte, von denen jedes für sich identifizierbar bleibt. Der «deutsche» Profit hingegen beruht auf abstrakten Kapitalgewinnen, die durch Zinsgeschäfte erzielt werden – die rechnerische Grundoperation ist hier nicht mehr die Addition, sondern die Division, die sich finanziell als Dividende niederschlägt.
Inkompatibles Wirtschaften
Der «deutsche» Blick auf das «russische» Wirtschaften zeigt sich in Stolz’ Analyse von Oblomows finanziellen Verhältnissen. Gontscharow hält seine Leser über Oblomows Einkünfte ständig auf dem Laufenden. Als Beamter hatte Oblomow bis zu 10 000 Rubel verdient, als Privatmann erhielt er vom Ältesten seines Guts zunächst 6000, dann 4000 Rubel. Später fällt dieser Ertrag auf 1500 Rubel.
Als Stolz von dieser gesunkenen Rendite erfährt, erklärt er, dass ein Gut von 300 Seelen üblicherweise das Dreifache abwerfe. Für Stolz bleibt unverständlich, dass Oblomow nicht auf eine unbegrenzte Kapitalakkumulation hinarbeitet. Auf die Frage, was er mit einem Kapital von 300 000 Rubeln machen würde, antwortet Oblomow: Er würde es als Lombard anlegen und von den Zinsen leben. Für Oblomow steht also nicht die optimale Kapitalanlage im Vordergrund, sondern ein regelmässiges Einkommen, das weder von Marktschwankungen noch von eigener Arbeitsleistung abhängig ist. Dem Rentier Oblomow ist deshalb auch jedes Budgetieren fremd.
Der russische Schriftsteller ;Iwan Gontscharow. Fine Art Images / Heritage Images / Imago
Stolz bezeichnet Oblomows ökonomisches Desinteresse immer wieder abschätzig als «Oblomowschtschina». Darunter fällt genaugenommen auch die vorkapitalistische Hauswirtschaft, wie sie in einem der bekanntesten Kapitel des Romans, «Oblomows Traum», beschrieben wird. Dort versetzt sich Oblomow im Schlaf in seine idyllische Kindheit und erlebt das Aufbewahren von Geld in einer Schatulle als beruhigendes ökonomisches Ideal.
Stolz’ Kritik an der «Oblomowschtschina» richtet sich im Grunde genommen gegen jenen toten Punkt der «Zufriedenheit», an dem jede Ökonomie überflüssig wird. Aber auch Oblomow verfügt über eine eigene Wahrheit. Angesichts der geldbestimmten Biografien, die er um sich herum beobachtet, stellt er immer wieder die Frage: «Wo bleibt der Mensch?» Und in einer monetären Metaphorik vermisst er die «Ganzheit» des menschlichen Lebens, das in «Kleingeld» eingewechselt wurde.
Das «russische» und das «deutsche» Wirtschaften sind im Roman «Oblomow» inkompatible Grössen. Letztlich tritt hier sogar der innerste Kern von Gontscharows Kulturkritik zutage: Russlands Unglück besteht darin, dass es noch zu keiner Synthese dieser Ökonomieformen gefunden hat, die – jede für sich genommen – beide unbefriedigend sind.
Die abgründige Madame Chauchat
In der deutschen Literatur hat sich Thomas Mann am intensivsten mit Russland auseinandergesetzt. Bereits in seinen «Betrachtungen eines Unpolitischen», die er während des Ersten Weltkriegs verfasste, spielt die russische Kultur eine entscheidende Rolle. Thomas Mann grenzte sich hier polemisch vom Westen ab, der im Kriegskontext hauptsächlich vom feindlichen Frankreich, aber auch von England und den USA verkörpert wird. Russland steht bei ihm für eine angebliche «Demokratie des Herzens», die der französischen «Demokratie des Prinzips und der humanitären Rhetorik menschlich tief überlegen» sei.
Wichtig ist in dieser schwärmerischen Formulierung das Adjektiv «menschlich», das als russisches Leitmotiv bei Thomas Mann gelten darf. Immer wieder behauptet er: «Der Russe ist der menschlichste Mensch.» Zweifellos war Dostojewski der Kronzeuge für Thomas Manns Russlandbegeisterung. Mann nimmt den Autor von «Schuld und Sühne» gleichzeitig als Heiligen und als Verbrecher wahr.
Dostojewskis Intimität mit dem Dämonischen hat Thomas Mann so fasziniert, dass er dem höflichen und wortgewandten Teufel aus den «Brüdern Karamasow» in seinem «Doktor Faustus» einen Platz auf dem Sofa anbot. Kein Verständnis brachte Mann hingegen für die Oktoberrevolution auf. Das Russische trat deshalb als ambivalentes Phänomen in sein Leben: als «heilige, anbetungswürdige» Literatur und als gewalttätiger Bolschewismus.
Im Sanatorium auf dem Davoser «Zauberberg» spaltete Thomas Mann sein doppeldeutiges Russland auf und setzte es an einen «schlechten» und an einen «guten» Russentisch. Am schlechten Tisch befindet sich «eine Familie mit einem hässlichen Knaben» und «verschlingt grosse Haufen Porridge». Die Eheleute sind Kleinbürger aus einem Dostojewski-Roman: «Der Mann war schmächtig gebaut und hatte graue und hohle Wangen. Er trug eine braune Lederjoppe und an den Füssen plumpe Filzstiefel mit Spangenverschluss. Seine Ehefrau, ebenfalls klein und zierlich, in wippendem Federhut, trippelte auf winzigen, hochgestöckelten Juchtenstiefelchen; eine unsaubere Boa aus Vogelfedern lag um ihren Hals.»
Am guten Tisch lockt hingegen das geheimnisvolle Russland. Bei Thomas Mann trägt es den Namen Clawdia Chauchat – eine junge Russin, die ihren rötlichen Zopf als Kranz auf dem Kopf trägt. Der Protagonist Hans Castorp weiss nicht recht, warum Madame Chauchat einen französischen Namen trägt und ob sie verheiratet ist. Er fühlt aber mit absoluter Sicherheit, dass er «über beide Ohren» in sie verliebt ist.
Es gehört zu Thomas Manns erzählerischen Tricks, dass er nie das Gefühlsleben von Madame Chauchat von innen schildert. Sie bleibt immer äusserlich, mit einer «eigen- und fremdartigen Gesichtsbildung» und «Kirgisenaugen». Genau diese unnahbar exotische Erscheinung schlägt den armen Castorp in Bann. Er erklärt Clawdia auf Französisch seine Gefühle im Kapitel «Walpurgisnacht», wagt aber nicht, «die Liebe, den Körper und den Tod» zu vereinen, wie es die russische Femme fatale fordert.
Thomas Mann lässt Madame Chauchat nach dieser Trennungsszene noch einmal auftreten. Sie taucht als volltönende Stimme im Lesesaal auf und betört den im Fauteuil sitzenden Castorp von hinten ein weiteres Mal mit der Forderung nach einem «mähnschlichen» Leben, das sie allerdings selbst auch nicht zu führen imstande ist.
Gegenseitige Impulse
Weder Iwan Gontscharow noch Thomas Mann kannten die Kultur ihrer fremden Protagonisten aus eigener Anschauung. Gontscharow war nie in Deutschland, Mann war nie in Russland. Gleichwohl sind ihre kulturellen Stereotype modellbildend geworden. Bis heute geistert in Russland das Bild des vernunftgesteuerten, erfolgreichen, aber gefühllosen Deutschen herum. In Deutschland gibt es nach wie vor eine unreflektierte Russlandschwärmerei, in der das «Ganzheitliche» und «Menschliche» der «russischen Seele» beschworen wird.
Dabei geht vergessen, dass entscheidende Impulse für Russland und Deutschland aus dem jeweils anderen Kulturkreis kamen. Die russischen Universitäten waren zu Beginn von deutschen Professoren dominiert, die Bürokratisierung des öffentlichen Lebens erfolgte nach preussischem Muster, und die deutsche Dichtung diente als ästhetisches Vorbild.
Umgekehrt füllten die Romanciers Turgenjew, Dostojewski und Tolstoi eine Lücke in der deutschen Literaturgeschichte, die russische Ballett- und Theaterkunst wirkte stilbildend in Deutschland, und die russische Avantgarde beeinflusste die moderne Kunst. Allerdings hat der Überfall auf die Ukraine auch zu einer kulturellen Selbstisolation Russlands geführt. Vergessen ist, dass man noch 2020/2021 in Russland ein «Deutschlandjahr» durchgeführt hatte. Sogar die Website dieser Grossveranstaltung meldet nur noch: «Gone».