Wenn der Buddelkastenfreund ein Nazi wird: „Spinne“ in der Schaubühne
Großer Schauspielrennsport: Caroline Peters ist keine Kurve zu eng. Szene aus „Spinne“ von Maja Zade, uraufgeführt in der Schaubühne
Die Nacht war kurz und Julia hat schlecht geschlafen. Alles, was sie tut, gerät ihr zur sinnlosen Nebensache, und auch wenn sie nicht über Kopfschmerzen klagt, wird klar, dass sie einen immensen Kater hat, der noch grimmiger sein würde, wenn sie sich vor dem Zubettgehen nicht ausgiebig und mit einem Gefühl der Genugtuung übergeben hätte.
Nun kommt sie also aus dem Bett in die voll ausgestattete und funktionstüchtige Single-Küche (Ausstattung: Nina Wetzel), füllt Wasser in den Espressokocher, mahlt Kaffee, verstreut dabei die Bohnen, ohne sie aufzusammeln. Während der Kocher auf dem Herd steht, bereitet sie sich einen Instantkaffee zu, das Wasser direkt aus dem Hahn in die Tasse mit dem Granulat füllend. Schließlich öffnet sie sich eine Mate-Limonade. Koffein in drei Darreichungsformen, die sie allesamt kaum anrührt. Wo hat sie nur ihren Kopf?
Die Dramatikerin Maja Zade hat in der Schaubühne die Uraufführung ihres neuen Stücks „Spinne“ selbst inszeniert. Ein bisschen erinnert das Setting an Franz Xaver Kroetz' „Wunschkonzert“ von 1973, in dem ein Fräulein namens Rasch nach Hause kommt, in Echtzeit die Verrichtungen ihres Alltagslebens absolviert und schließlich wie zum Sterben ins Bett geht. Aber während das Fräulein Rasch kein Wort verliert, spricht Julia ununterbrochen. Viel hoffnungsvoller ist das zwar auch nicht, aber deutlich unterhaltsamer.
Sie berichtet von der Wiederbegegnung mit ihrem Buddelkasten- und Schulfreund Kris. Nachdem Julias Beziehung vor einer Weile gescheitert ist, hat sie Kris gegoogelt, den Lieblingsitaliener seiner Frau ermittelt und ihn dort abgepasst. Es ist sehr verständlich, dass sie nun das Bedürfnis hat, den Abend Revue passieren zu lassen. Sie hat Kris „zwanzig, dreißig Jahre“ nicht gesehen. Ihre Wege haben sich nach dem Abitur getrennt – sie waren einander sehr nah, ohne ein Paar geworden zu sein. Die Vertrautheit ist sofort da, auch wenn er anders roch als damals: „nach Aftershave, mehr nach Produkt als Körper, aber es ist nicht unangenehm.“
Unangenehm wird es dann aber doch, nicht nur wegen Kris' eifersüchtiger Frau und dem aggressiven Teenagersohn, die von einer Shoppingtour dazustoßen. Schnell wird klar, dass aus dem netten Kris ein rechtsextremistischer Anwalt geworden ist. Er hilft seinen Mandanten, darunter hohe Tiere von der AfD, „das System“ zu benutzen, es auszutricksen. In rasantem, von viel Alkohol beschleunigtem Tempo eskaliert der Abend zu einem Clash der Weltanschauungen, der Geständnisse und der Vorwürfe, die die Jahrzehnte überspringen und dort ansetzen, wo die beiden stehengeblieben waren. Deshalb greifen die gegenseitigen Verletzungen schön tief in die ungeschützte Seele.
Der Bericht – unterbrochen und strukturiert von krabbelnden Bildern mit viel titelgebendem Ungeziefer und anderen Motiven aus dem Handbuch der Traumdeutung (Video: Sébastien Dupouey) – wird durch Caroline Peters zu einem Ereignis der effektiven Schauspielkunst. So zerfasert und zermürbt die Nervenstränge ihrer Figur sein mögen, die Schauspielerin greift mit einer Sicherheit und Selbstverständlichkeit auf sie zu wie ein Virtuose in die Saiten.
Manchmal wechselt sie innerhalb eines Seufzers die aufgestapelten Erzählebenen ihres Berichts. Eine Andeutung, ein stehenbleibender Blick reichen aus, um die Situation klarzumachen. Sie gibt nicht nur das Gesagte und Gesehene aus allen Perspektiven wieder, rattert nicht nur durch die politischen Argumente, die sich schon in den Schwanz gebissen haben, bevor sie ausformuliert sind; sondern sie rekapituliert auch noch alle zugehörigen Gefühlslagen, angeklungenen Klischees und dechiffrierten Untertexte, fügt ihre Interpretationen hinzu und dröselt die kommunikativen Antagonismen auf, ohne auch nur einen Satz auszubuchstabieren oder eine Seelenregung unnötig hochzureißen.
Der in seinem Reichtum an Auslassungen und Andeutungen durchgeschliffene Text von Zade findet in der geistigen Wendigkeit und dem herrlich beweglichen Gesicht von Peters seinen Ausdruck. Diese Schauspielerin transportiert scheinbar mühelos jede Subtilität und jede Nuance, sie muss die Pointen gar nicht setzen, sie lässt sie einfach ausflocken, während sie mit dem Kopf schon drei Ecken weiter ist.
In keinem Moment wird eine Absicht erkennbar, nichts wirkt angesteuert, betont, getimt oder konstruiert, jeder Gedanke scheint unmittelbar aus dem Bewusstseinsstrom abzufließen, aber doch so, dass sich die Motive des Textes einbrennen und seine ausweglose Kreisbewegung miterlebbar wird wie eine Karussellfahrt. Und wie bei einer Karussellfahrt steigt man am Ende bestens unterhalten, mit wackligen Beinen und durchgespültem Hirn genau dort aus, wo man eingestiegen ist.
Als psychoanalytische Zeitdiagnose unserer ohnmächtigen spätbürgerlichen, kurz vor der Selbstzerfleischung stehenden Gesellschaft ist das Ganze bei allem Theatergenuss sehr betrüblich und frei von Hoffnung. Dass die beiden einander wiedersehen, darf nach dem Geschehenen wohl ausgeschlossen werden. Wenn aber doch, so wäre mein dringender verhaltenstherapeutischer Rat, sollten sie unbedingt miteinander schlafen. Es wäre besser für uns alle.
Spinne 21., 23., 24., 27.-29. Juni, 20 Uhr in der Schaubühne, Karten und Informationen unter Tel.: 890023 oder www.schaubuehne.de