Helmut W. Ganser: "Unsere Verwundbarkeit ist enorm"

Europa ist auf dem Papier stärker als Russland, wirkt aber wenig verteidigungsbereit. Dabei läuft bereits ein neuer Kalter Krieg, sagt Brigadegeneral a. D. Helmut Ganser.

helmut w. ganser:

Angespannte Lage: Seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine soll die Bundeswehr sich vor allem um die Landes- und Bündnisverteidigung kümmern. Beim Manöver Wettiner Schwert 2024 stürmen deutsche Soldaten zu Übungszwecken vor.

Russland ist eine ernst zu nehmende Bedrohung und wird das auch bleiben, sagt Helmut W. Ganser, Brigadegeneral a. D. der Bundeswehr. Dennoch wird es nicht reichen, ausschließlich auf militärische Mittel zu setzen. Für Ganser, der unter anderem im Verteidigungsministerium in Berlin und an der Führungsakademie tätig sowie militärpolitischer Berater der deutschen Ständigen Vertreter bei der Nato und den Vereinten Nationen war, zeigt der Kalte Krieg im 20. Jahrhundert, dass es neben Abschreckung noch weitere Dinge braucht, um eine Eskalation zu verhindern.

ZEIT ONLINE: Herr Ganser, auch mehr als zwei Jahre nach der Vollinvasion der Ukraine durch die russische Armee scheint Europa nicht wirklich verteidigungsbereit. Dabei sind die jährlichen Verteidigungsausgaben mit 240 Milliarden Euro deutlich höher als in Russland. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Helmut W. Ganser: Das liegt an den unterschiedlichen Interessen der EU-Mitglieder. Die Union ist in diesem Punkt einfach sehr heterogen. Seit Jahren versuchen die 27 Mitgliedsstaaten, von denen jetzt 23 auch Nato-Mitglieder sind, ihre Streitkräfte und ihre Rüstung besser zu koordinieren und zu vereinheitlichen. Das ist ein mühsames Geschäft. Nationale Interessen und Egoismen, insbesondere bei den größeren EU-Staaten, verhindern eine ambitioniertere Zusammenarbeit. Ich bin mir nach den Europawahlen und der politischen Lage in Frankreich auch nicht sicher, ob sich daran in den kommenden Jahren etwas ändert. Die europäische Heterogenität wird sich wahrscheinlich fortsetzen – trotz Krieg in der Ukraine.

ZEIT ONLINE: Europa kann sich beispielsweise nicht auf eine gemeinsame Flugabwehr einigen …

Ganser: Die deutsche European Sky Shield Initiative (Essi) ist gerade für die Sicherheit der Bundesrepublik sehr wichtig. Deutschland wäre im Kriegsfall die zentrale Drehscheibe für Aufmarsch und Logistik und deshalb erstes Ziel für weitreichende russische Raketenangriffe. Aber nicht nur bei der Luftverteidigung müssen sich die Europäer zusammenraufen. Derzeit sind die europäischen Verteidigungsfähigkeiten insgesamt eher gering, was auch an den Abgaben an die Ukraine liegt.

ZEIT ONLINE: "Europa befindet sich längst in einem tiefen neuen Kalten Krieg", schreiben Sie in einem neuen Buch als Co-Autor, das gerade erschienen ist. Was meinen Sie damit?

Ganser: Ich denke, vielen Politikern in Deutschland ist die prekäre Sicherheitslage, in der wir uns befinden, nicht wirklich bewusst. Es werden zu viele verbale Beruhigungspillen verteilt. Gleichzeitig verstricken sich die Nato-Staaten immer stärker in die Verteidigung der Ukraine gegen die atomare Supermacht Russland. Dabei wachsen schleichend die Risiken für eine unmittelbare Konfrontation.

ZEIT ONLINE: Die aber niemand will – weder die Nato noch Russland.

Ganser: Ja, aber haben wir das Geschehen wirklich unter Kontrolle? Die gesamte Sicherheitskooperation mit Russland einschließlich der Rüstungskontrolle ist zusammengebrochen. In wenigen Jahren werden sich Nato-Verbände und russische Truppen in Osteuropa feindlich unmittelbar gegenüberstehen. Das gilt auch für die künftig weit vorn eingesetzte deutsche Brigade in Litauen. Es gibt keine politischen und militärischen Kommunikationskanäle mehr, um dann lokale Zusammenstöße aufzufangen. Das ist brandgefährlich.

ZEIT ONLINE: Wie sollten die europäischen Staaten auf das wachsende Risiko reagieren?

Ganser: Es ist ein Trugschluss, zu glauben, dass Sicherheit und Frieden längerfristig ausschließlich durch militärische Mittel gewährleistet werden kann. Im Kalten Krieg wurde auch auf Dialog und Rüstungskontrolle gesetzt. Davon sind wir heute weit entfernt. Wir müssen über den laufenden Ukraine-Krieg hinausblicken und Konzepte entwickeln, wie wir Sicherheit und Frieden in Europa unter den Bedingungen einer konfrontativen Koexistenz stabilisieren können. Dazu gehören auch Maßnahmen der Risikominderung durch diplomatische und militärische Kommunikationskanäle.

ZEIT ONLINE: Wie könnte ein solches Konzept aussehen?

Ganser: Diplomatie gegenüber Russland muss durch militärische Stärke unterfüttert sein, mit den amerikanischen Atomwaffen, aber vor allem auch mit starken konventionellen Kräften. Hier kann die Doppelstrategie der Harmel-Doktrin von 1967 als Muster und Grundkonzept wiederbelebt werden. Im Kalten Krieg des 20. Jahrhunderts setzte die Nato mit dieser Doktrin gleichzeitig auf konventionelle und nukleare Abschreckung und stabilisierende Beziehungen mit den Machthabern im Kreml. Das ist heute mit Putin ungleich schwieriger.

ZEIT ONLINE: Um konventionell stärker zu werden, müssen die Europäer die Wehretats steigern. Viele Länder tun sich schwer, die in der Nato vereinbarten zwei Prozent ihres BIP für die Streitkräfte aufzuwenden. Wie wichtig sind höhere Verteidigungsausgaben?

Ganser: Die Verteidigungsausgaben müssen weiter steigen, das ist unvermeidlich. Und zwar deutlich über zwei Prozent des BIP. Schon im Juli, auf dem kommenden Gipfel, könnte das Nato-Ziel angehoben werden. Viel entscheidender ist jedoch, was die Nato-Mitglieder tatsächlich an militärischen Fähigkeiten und Kräften der Allianz zur Verfügung stellen können. Da sieht es bei einigen großen europäischen Nato-Mitgliedern – wie beispielsweise Frankreich oder auch Großbritannien – relativ karg aus. Beide Staaten geben viele Milliarden für ihre rein nationalen Atomwaffen und ihre global operierenden Seestreitkräfte aus, aber zu wenig für Bodentruppen, die viel dringender gebraucht werden.

ZEIT ONLINE: Der Bundesrepublik stellen Sie im neuen Buch Europa und der Ukrainekrieg ein sehr schlechtes Zeugnis aus: Deutschland sei "in höchstem Maße verwundbar und im Inneren materiell und psychologisch nicht auf eine Kriegssituation vorbereitet". Wie lässt sich das ändern?

Ganser: Unsere Verwundbarkeit ist enorm. Deutschland ist dicht besiedelt, die kritische Infrastruktur ist vulnerabel, es existiert nur ein rudimentärer Zivilschutz. Nicht ohne Grund hat Verteidigungsminister Boris Pistorius gefordert, dass Deutschland endlich "kriegstüchtig" werden müsse. Seine Äußerungen sind aber nicht überall gut angekommen. Viele Deutsche lehnen es weiterhin ab, die Bundeswehr und die Zivilverteidigung zu stärken. Sie wollen stärker auf Diplomatie setzen. Das allein aber wird nicht reichen.

ZEIT ONLINE: Mit Wladimir Putin lässt sich ohne ein Signal der Stärke nicht verhandeln?

Ganser: Nein. So wie wir Putin in den vergangenen Jahren erlebt haben, wie er mit brutaler Gewalt die Ukraine überfallen und große Gebiete annektiert hat, ist klar: Diplomatie muss mit militärischer Stärke gepaart sein.

ZEIT ONLINE: Der republikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump hat die Existenz der Nato infrage gestellt. Gibt es für die Europäer zum transatlantischen Bündnis eine Alternative?

Ganser: Nein. Ohne die erweiterte atomare Abschreckung durch die USA und deren konventionellen Kräfte wird sich Europa mittelfristig nicht hinreichend verteidigen können. Selbst im schlimmsten Fall, bei einem Rückzug Trumps aus der Nato müsste der Kern der Bündnisstrukturen erhalten und zwangsläufig europäisiert werden. Die bisherigen militärpolitischen Strukturen der EU sind keine Alternative.

ZEIT ONLINE: Die USA verlagern seit einigen Jahren viele Streitkräfte in den Pazifikraum. Muss sich Europa darauf einstellen, irgendwann allein für die Sicherheit in ihrer Region verantwortlich zu sein?

Ganser: Das hängt entscheidend vom Ausgang der US-Wahl ab. Unter einem Präsidenten Donald Trump könnte die Nato sehr schnell geschwächt werden. Aber auch bei einem knappen Wahlsieg von Joe Biden ist eine eingeschränkte Handlungsfähigkeit der USA denkbar. Die seit Jahren laufende Verlagerung von Truppen in den Indopazifik wird weitergehen. Hinzu kommt die Präsenz amerikanischer Soldaten in dem Mittleren Osten zur Unterstützung Israels.

ZEIT ONLINE: Im Kalten Krieg hat die nukleare Abschreckung funktioniert. Wie sieht es heute mit dem Konzept aus in Zeiten, in denen asymmetrische Attacken und Cyberangriffe stark zugenommen haben?

Ganser: Seit den 1960er-Jahren gibt es den zentralen Begriff der strategischen Stabilität, das sogenannte Gleichgewicht des Schreckens zwischen den großen Atommächten USA und der Sowjetunion beziehungsweise später Russland. Nach dem Prinzip: Wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter. Das funktioniert weiterhin, wenngleich sich zunehmend neue Risiken ergeben, etwa im Cyberraum. Ein erhebliches Risiko wären beispielsweise fehlerhafte KI-gestützte Frühwarnsysteme, die irrtümlich Raketenangriffe melden und zu einem realen Start von Atomraketen der Gegenseite führen könnten. Angriffe auf strategische Frühwarnsysteme der Atommächte sind im Sinne strategischer Stabilität ein Tabu. In diesem Zusammenhang waren die jüngsten Drohnenangriffe der Ukraine auf strategische russische Frühwarnradars nicht nur dumm, sondern auch gefährlich.

ZEIT ONLINE: Wie ernst muss der Westen Putins Drohungen nehmen, auch Atomwaffen einzusetzen, sollte sein Land angegriffen werden?

Ganser: Putin hat schon 2014 vor der Annexion der Krim mit Nuklearwaffen gedroht, vermutlich um ein Eingreifen der Nato zu verhindern und den Westen von Waffenlieferungen an die Ukraine abzuhalten. Die Hürde für den tatsächlichen Einsatz dürfte aufgrund der katastrophalen Folgen auch im Kreml hoch sein. Das Argument, Putin würde keine Atomwaffen einsetzen, weil er bisher ja keine eingesetzt hat, finde ich allerdings einfältig. Wenn Russland eine klare Niederlage im Ukraine-Krieg vor Augen hätte, würde das Risiko einer russischen nuklearen Eskalation dramatisch steigen. Ich vergleiche die scheibchenweise wachsenden westlichen Interventionen gern mit dem immer stärkeren Spannen eines Bogens, ohne zu wissen, wann die Bruchstelle erreicht wird. So könnte der Verlust der Krim beispielsweise zum Einsatz von russischen Atomwaffen führen. Wir wissen jetzt, dass in Moskau im Oktober 2022 über Atomwaffeneinsätze beraten wurde, als sich russische Truppen im südlichen und im nördlichen Frontabschnitt über viele Kilometer zurückziehen mussten.

ZEIT ONLINE: Sollte die EU mehr für eine von den USA unabhängige nukleare Abschreckung tun?

Ganser: Wenn die erweiterte Abschreckung der USA tatsächlich schwinden sollte, müssen die Europäer eine glaubwürdige Alternative finden. Russland bleibt schließlich eine atomare Supermacht und auf absehbare Zeit bedrohlich. Eine unabhängige Abschreckung innerhalb der EU kann ich mir nicht vorstellen. Wie soll das möglich sein, wenn bereits die konventionelle Verteidigungspolitik nicht vorankommt? Ich sehe eine europäische Abschreckung eher im Rahmen der Nato, in der dann auch die Briten eine Rolle spielen. Einen deutschen nationalen Alleingang schließe ich aus. Aber die Debatte sollte endlich gründlich und sachlich geführt werden, vor allem in vertraulichen Regierungskonsultationen, bilateral und innerhalb des europäischen Pfeilers in der Nato.

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