Wahl im Iran: „Die Bevölkerung will den Sturz des Regimes“
Wahl im Iran
Wahl im Iran: „Die Bevölkerung will den Sturz des Regimes“
Mitte Juni in Teheran: „Die Gesellschaft hat sich tiefgreifend und strukturell verändert“, sagt der oppositionelle Aktivist Javad.
Javad ist im Iran in einer Oppositionsbewegung aktiv. Ein Gespräch über die gesellschaftlichen Veränderungen in seinem Land, brutale Revolutionsgarden und fehlende Unterstützung des Westens.
Javad, Sie sind im Iran Mitglied der Widerstandseinheit. Worum geht es in dieser Oppositionsbewegung?
Die Widerstandseinheiten sind dezentralisierte Netzwerke von Aktivist:innen, die sich gegen das Regime erheben. Sie spielten eine entscheidende Rolle bei den sechs landesweiten Aufständen, die sich von Dezember 2017 bis 2022 erstreckten. Mit Plakaten und Graffiti-Kampagnen verbreiten wir Anti-Regime-Parolen, setzen Symbole des theokratischen Regimes in Brand und versuchen‘ die Bürger:innen zu ermutigen und zu mobilisieren.
Wir sind nämlich davon überzeugt, dass eine Veränderung des politischen Systems von der Bevölkerung ausgehen muss. Der Aufstand im Jahr 2022 mit dem Tod der kurdischstämmigen Iranerin Jina Mahsa Amini stellte einen Wendepunkt dar. Innerhalb weniger Monate schlossen sich immer mehr Menschen – vor allem die jüngere Generation – der Oppositionsbewegung an. Die Verbrennung Tausender Propaganda-Banner des Regimes und die Wiederholung von Slogans wie „Tod für Chamenei“ wurden zum Symbol dieses Aufstands.
Weiterlesen
Spannungen im Nahen Osten: Die Hisbollah droht nun auch Zypern
Das iranische Regime lässt sich aber nicht beeindrucken.
Trotz interner Dokumente des Außenministeriums des Regimes, die Bedenken über den anhaltenden Einfluss der Widerstandseinheiten des Regimes enthüllten, hatten diese Einsätze einen hohen Preis: Mehr als 3000 Mitglieder der Widerstandseinheiten wurden entweder inhaftiert oder sind verschwunden. Im vergangenen Jahr kam es außerdem zu einer Welle von Hinrichtungen von Demonstrierenden, Nutzer:innen sozialer Medien und anderen tatsächlichen oder vermeintlichen Dissident:innen. 2023 wurden mehr als 800 Menschen vom Mullah-Regime exekutiert, von denen viele während der Proteste festgenommen worden waren – so viele wie seit 2015 nicht mehr.
Und wie ist die Atmosphäre im Land seit dem Tod von Staatspräsident Ebrahim Raisi?
Das Regime ist dadurch geschwächt. Raisi war die rechte Hand des inzwischen schon 85-jährigen Revolutionsführers Ayatollah Chamenei. In seiner früheren Funktion als Staatsanwalt war er für zahlreiche Verhaftungen und Hinrichtungen von politischen Dissident:innen verantwortlich. Weshalb seine Gegner:innen ihn als „Schlächter von Teheran“ bezeichneten. Er war ein loyaler Hardliner, der im Gegensatz zu seinen Vorgängern Hassan Rohani, Mahmoud Ahmadinejad und Mohammad Chatami Chamenei in keinem Punkt widersprach. Mit anderen Worten: Raisi war seine Marionette. Er hätte auch das nächste religiöse Oberhaupt werden sollen. Zu diesem Zweck wurde alles in die Wege geleitet. Aufgrund der Proteste, militärischen Spannungen im Nahen Osten, seiner Rolle in dem verheerenden Nahostkrieg, seiner internationalen Isolation und einer schweren Wirtschaftskrise befindet sich der Iran in einem anhaltenden Krisenzustand und die Gesellschaft ist bereit, zu explodieren.
Zur Person
Javad (Name geändert, muss aus Sicherheitsgründen anonym bleiben) ist 40 Jahre alt und arbeitet als Techniker für Heiz- und Kühlsysteme. sd
Glauben Sie, dass ein Wandel möglich ist?
Ja. Ich bin Optimist, sonst würde ich mich nicht engagieren und mein Leben riskieren, um das Regime zu stürzen. Es kann nicht sein, dass wir alle paar Jahre auf die Straßen gehen und Hunderte von Menschen ermordet werden, ohne dass sich etwas ändert. Die iranische Bevölkerung will den Sturz des Regimes. Es ist viel mehr als das Kopftuch. Die Gesellschaft hat sich tiefgreifend und strukturell verändert. Die Bevölkerung ist progressiv und diese gesellschaftlichen Veränderungen sind im Alltag spürbar. Um das Regime zu stürzen, brauchen wir aber auch die Unterstützung des Westens. Wir wollen keine Waffen oder finanzielle Hilfe. Wir verlangen aber, dass die westlichen Staaten hinschauen und aufhören, die islamistische Diktatur zu umwerben. Das wäre meine Botschaft an die deutsche Bundesregierung.
Was erwarten Sie denn genau von der Europäischen Union – beziehungsweise was erwarten Sie von Deutschland?
Eine angemessene Reaktion des Westens. Die Revolutionsgarden sind eine brutale paramilitärische Einheit mit enormem Einfluss. Es ist das eigentliche Rückgrat dieses Terrorregimes. Deshalb sollten sie auf die EU-Terrorliste gesetzt werden, wie es Kanada vor einer Woche getan hat. Statt über das Atomabkommen zu diskutieren, muss die EU über die eklatanten Menschenrechtsverletzungen im Land und die zerstörerische Rolle des Iran in der Region sprechen. Seit dem Ausbruch des Krieges am 7. Oktober hat der Grad der Grausamkeit (im Iran, Anm. d. Red.) ein da gewesenes Niveau erreicht. Die iranische Führung hat ein Gefühl der Straflosigkeit, das durch internationale Untätigkeit bestätigt wird.
Das Problem ist doch auch, dass es immer noch keine politische Systemalternative gibt, auf die sich die Bevölkerung im Iran stützen könnte. Was ist Ihre Meinung dazu?
Die iranische Bevölkerung unterstützt den Zehn-Punkte-Plan von Maryam Rajavi, der Präsidentin des Nationalen Widerstandsrats des Irans, einer im Jahr 1980 in Paris gegründeten Bewegung. Er beruht auf Gleichberechtigung und der Trennung von Religion und Staat. Die Behauptung, es gebe keine demokratische Alternative zum Mullah-Regime, ist ein bekanntes Narrativ des iranischen Regimes und seiner Lobby, die als Netzwerk sogenannter „iranischer Experten“ fungiert und westliche Thinktanks unterwandert. Und das Regime profitiert davon.
Jugendliche Anfang der Woche in einem Teheraner Park.