Die halbe Welt sucht auf dem Erholungsberg Frieden für die Ukraine
Wolodymyr Selenskyj bei der Ankunft in Zürich
Bürgenstock – Die Schweiz hat gerufen. Und die halbe Welt ist gekommen. Das waren die an sich vielversprechenden Vorzeichen, unter denen am Samstag in der Nähe von Luzern am Vierwaldstättersee eine zweitägige Konferenz zur Lage im Ukrainekrieg begonnen hat. Es sei dies eine Tagung "zum Frieden in der Ukraine", keine echte Friedenskonferenz, gab die schweizerische Diplomatie die Richtung vor.
Was wie ein Wortspiel klingt, hat seine tiefere Bedeutung darin, dass es in dem Erholungsresort, einem weitläufigen, abgeschiedenen Hotelkomplex hoch oben auf dem Berg in Bürgenstock, keine Verhandlungen über ein Friedensszenario geben sollte. Vielmehr sollte das Treffen dazu dienen, möglichst viele Staaten in einem gemeinsamen Prozess der Annäherung zu bringen, um das Kriegsgeschehen zu bremsen, humanitäre Fortschritte konkret auf den Weg zu bringen.
Das ist gelungen. 92 Staaten sind vertreten, durch 58 Staats- und Regierungschefs sogar auf höchster Ebene. Dazu kommen acht internationale Organisationen wie die UN, die OSZE, die EU die Organisation der amerikanischen Staaten. Russland und China, die Big Player im Krieg, sind nicht dabei. Aber immerhin nehmen Indien, Südafrika und Brasilien teil, vertreten von Diplomaten.
Viola Amherd, die Bundespräsidentin und Gastgeberin, warnte denn auch gleich eingangs, die Erwartungen nicht zu hochzuschrauben: "Unsere Ziele sind bescheidene", sagte sie in einer Pressekonferenz mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zum Start. Dieser freute sich, das das Ereignis überhaupt stattfindet: "Wir haben es geschafft, der Diplomatie eine Chance zu geben."
Tatsächlich war er es, der diese Konferenz in der Schweiz angeregt hatte. Es ist auch die größte dieser Art seit Ausbruch des Krieges im Februar 2022. Die eidgenössische Regierung scheute keine Kosten und Mühen, diese Veranstaltung zu organisieren.
Die Sicherheitsmaßnahmen durch Polizei und Armee waren gigantisch. Der "Bürgenstock" wurde hermetisch abgeriegelt, von 4000 Polizisten bewacht. Die Armee zeigte, was sie kann. Mit einer Luftbrücke wurden die Regierungschefs und ihre Delegationen vom Flughafen Zürich auf den Berg geflogen. Man befürchtete Anschläge ebenso wie russische Cyberattacken. Sogar eine ABC-Einheit, die das Nervengift Nowitschok erkennen kann, wurde beim Zugang zum Veranstaltungsgelände aufgeboten.
Russland, der Kriegsgegner der Ukraine, hatte von vornherein deutlich gemacht, dass es an einer Teilnahme nicht interessiert ist. Der Kreml wurde daher von der Schweizer Diplomatie gar nicht erst eingeladen.
Nicht zufällig hatte Präsident Wladimir Putin am Vortag ultimativ erklärt, dass die Ukraine auf vier Oblaste in der Ostukraine verzichten müsse, die nach einer Volksabstimmung unter Kriegsbedingungen vom Kreml als Teil Russlands von Russland betrachtet werden. Auch müsse die Regierung in Kiew auf einen Nato-Beitritt verzichten, sonst brauche man über Frieden gar nicht erst zu reden. Putin gibt des unbeugsamen starken Manns.
Das seien nicht Bedingungen, die der russische Präsident vorgebe, sondern "ein Diktat", sagte dazu Bundeskanzler Karl Nehammer beim Treffen. Ihm war die Teilnahme wichtig, so wie 23 anderen EU-Staats- und Regierungschefs auch. Nur Ungarn, die Slowakei und Rumänien wurden in Bürgenstock lediglich von Außenministern vertreten.
Nehammer wertete "diese wichtige Initiative der Schweiz" aber als Zeichen der Hoffnung, dass überhaupt über Friedensperspektiven geredet werde, in einem solchen breiten Format. Er betonte, dass es aus Sicht der Europäer und auch der USA jetzt vor allem darum gehe, Länder aus Afrika, Lateinamerika und auch Asien in einen fruchtbaren Dialog zu bringen. "“Wir im Westen sind uns einig, Russland hat den Krieg begonnen, nicht die Ukraine", sagte er, man stehe daher klar aufseiten der Ukraine.
Um Schritte in Richtung einer friedlichen Entwicklung und Entspannung gehen zu können, müssten die Europäer aber vor allem BRICS-Staaten wie Indien, Brasilien oder afrikanische Staaten auf ihre Seite bringen, so der Bundeskanzler. Die Konferenz in Bürgenstock könne dafür eine gute Basis sein. Ob das der Beginn eines späteren Friedensprozesses sei, lasse sich überhaupt nicht abschätzen, weil Russland keinerlei Bereitschaft zeige. Aber; Irgendwann werde es auch zu Gesprächen mit der russischen Seite kommen.
Für die USA nahm nicht Präsident Joe Biden am Treffen teil, sondern Vizepräsidentin Kamala Harris. Sie brachte gleich eingangs ein neues Hilfspaket für die Ukraine mit, 1,5 Milliarden Euro zum Aufbau der Energieversorgung, weitere 300 Millionen für humanitäre Zwecke.
Nach der Eröffnungssitzung und einem Galadiner am Abend werden sich die Staatenvertreter am Sonntag vor allem auf drei größere Themenbereiche kümmern, die aus dem Kriegsgeschehen herausgehalten werden sollen, zu es dringend Fortschritte geben solle.
Erstens: Austausch von Kriegsgefangenen und Schutz der Kinder in der Ukraine vor Verschleppung durch russische Truppen.
Zweitens: Bessere Schutz der Atomkraftwerke in der Ukraine. Es soll versucht werden, die russische Seite dazu zu bringen, dass AKWs nicht als militärische Stellungen missbraucht werden oder gar beschossen werden. In diesem Punkt hat sogar China Interesse an Entspannung.
Drittens: Sicherstellung der Ausfuhren von Agrarrodukten auf den Weltmarkt, vor allem Getreide. Seit die russische Schwarzmeerflotte geschwächt wurde, hat sich die Lage diesbezüglich verbessert. Die Europäer hoffen in Bürgenstock darauf, dass sie mit den afrikanischen Staaten über diese Schiene besser ins Gespräch kommen, die auf Importe von Nahrung angewiesen sind.
Inwieweit es dabei konkrete Beschlüsse und auch eine gemeinsame Schlusserklärung geben wird, war offen – ist aber nicht ausgeschlossen. Auch die Frage, ob dieser schweizerische "Auftakt zum Frieden in der Ukraine" eine Folgekonferenz bringen wird, möglicherweise in Saudi-Arabien, war am Samstag unklar. Echte Friedensverhandlungen seien in absehbarer Zeit nicht zu erwarten, sagen Diplomaten, da beide Seiten davon überzeugt sind, ihre Lage durch militärische Mittel zu verbessern. Kanzler Nehammer stellte fest, dass es schon ein Erfolg sei, dass diese Konferenz überhaupt stattfinden konnte "mit der klaren Botschaft, dass wir alle auf Augenhöhe miteinander reden". Es ginge jetzt vor allem darum, dass die Europäer und die USA "den richtigen Tonfall" finden bei der Suche nach Partnern in der Welt, die mitwirken wollten, diesen Krieg so bald wie möglich zu beenden. (Thomas Mayer aus Bürgenstock, 15.6.2024)