800 Jahre Bitterfeld: Da wohnen Menschen!
Bitterfeld ist kein Ort wie jeder andere im kleinstädtisch-ländlichen Übergangsraum.
Bitterfeld, die Stadt, die lange Zeit im zweifelhaften Ruf stand, die dreckigste Europas zu sein, wird 800 Jahre alt. Dabei gibt es Bitterfeld streng genommen gar nicht mehr, zumindest nicht als eigenständige Stadt. Die einstige Kreisstadt ist seit 2007 Ortsteil von Bitterfeld-Wolfen. Der Zusammenschluss der Nachbarstädte gehört zu einem lang anhaltenden Trend: weniger Einwohner, weniger Infrastruktur, mehr Frust. Im vergangenen Jahr erreichte der AfD-Kandidat in der Stichwahl um das Oberbürgermeisteramt 46 Prozent.
Trotzdem ist Bitterfeld kein Ort wie jeder andere im kleinstädtisch-ländlichen Übergangsraum, der weite Teile Ostdeutschlands prägt. Während andere Regionen in der abgehängten Ferne verschwinden, liegt Bitterfeld unweit von Leipzig und der Hochschulstädte Dessau, Halle und Magdeburg. Es gibt eine ICE-Verbindung nach Berlin, in weniger als einer Stunde könnte man in Mitte sein.
Diese Nähe zu den Großstädten ist Fluch und Segen zugleich. Einerseits gewinnt die Stadt an Zulauf: Fachkräfte für die mehr als 360 Unternehmen im riesigen Chemiepark der Stadt, Touristen für den gefluteten Tagebaurestlochsee. Andererseits ist es deutlich attraktiver, täglich zurück nach Halle, Leipzig oder Wittenberg zu pendeln, als in Bitterfeld sesshaft zu werden. Und so brummt der Chemiepark nördlich der Stadt und tummeln sich Flaneure am Goitzschesee, weit im Osten der Stadt. Doch die Einwohnerzahl sinkt – aktuell auf den Stand von 1910 –, und der Marktplatz im Zentrum verwaist. Nun schließt dort auch die Rossmann-Filiale.
Zweifelhafte Berühmtheit
Bitterfeld, 1224 erstmals erwähnt, blieb lange Jahrhunderte eine unbedeutende Grenzstadt zwischen Sachsen und Brandenburg. Als mitteldeutsches Industriezentrum setzte die Stadt später zu einem temporeichen Wachstum an, gelangte aufgrund der massiven Umweltverschmutzung aber auch zu zweifelhafter Berühmtheit – und Spott. „Bitterfeld an der Bitter“ – so Kurt Tucholsky – war für Harry Graf Kessler ein durchweg „freudloses Fabrikdorf“. Franz Werfel meinte in seinem Roman „Verdi“, dass die Stadt ihren Namen zu Recht trüge und tatsächlich „nicht süß“ sei. Ernst von Wolzogen ließ in „Die Erbschleicherinnen“ zwei durchreisende Frauen sogar weinen, als sie Bitterfeld erblickten: „Grau, grau! Weite Ebene ohne Baum und Strauch. Etwas Öderes hatten sie in ihrem Leben noch nicht gesehen.“ Eine der Damen seufzt: „Da wohnen auch Menschen! Unbegreiflich!“
In der DDR wurde der Raubbau an der Natur fortgeführt. Breite Zufahrtsstraßen zu den Tagebauen und dem Chemieareal zerschnitten die historische Innenstadt, die zunehmend verkam. Nach der Wende mauserten sich die Tagebaurestlöcher zum Naherholungsgebiet. Wer konnte, zog in eines der Neubauviertel, die am Stadtrand aus dem Boden schossen. Die Innenstadt hingegen blieb leer. Der Stadt fehlt ein Herzstück, das alles zusammenhalten könnte. Die Kirche, das Rathaus und das Kreismuseum am Markt haben diese Bindekraft nicht. Erschwerend kommt hinzu, dass sich die größten Anziehungspunkte der Stadt wie das Erlebnisbad, das Kino und das Kulturhaus im Ortsteil Wolfen befinden. Der liegt weit nördlich.
Das Jubiläum zündet nicht
Umso wichtiger wäre eine differenzierte 800-Jahr-Feier, die einen roten Faden der Geschichte sichtbar macht und die Gegenwart einordnet, sodass man vielleicht positiv in die Zukunft schauen könnte. Eine Feier, die das herausarbeitet, was typisch für Bitterfeld ist. Die Hoffnung macht.
Doch das Jubiläum zündet nicht. Die Verkehrsinsel im zentralen Kreisverkehr, auf der eine Art 800-Jahr-Denkmal aus Kohlebagger und stilisiertem Bernstein entstehen sollte, wird aus Kostengründen schlicht begrünt. Der Neubau des Bahnhofs geht zwar voran, wird aber erst gegen Jahresende fertig. Inhaltlich wird an den bevorstehenden vier Festtagen einiges geboten, aber Mittelaltermarkt, Opernsänger, Ponykutschfahrten und Livebands könnte es auch an jedem anderen Ort zu jedem anderen Anlass geben. Wenn sich am Sonntag ein Umzug durch den Ort schlängelt, wird man etwas zu sehen bekommen, das es auf anderen Festen in der Umgebung jedes Jahr zu bestaunen gibt.
Was bleiben wird, sind ein paar schöne Momente. Vielleicht auch etwas Unmut, wenn nicht jede geladene Band überzeugt. Dafür also wurden das Kinderfest vom Fußballverein, das Hafenfest, der Bauernmarkt eingespart? Die 800 Jahre Geschichte werden an diesen vier Feiertagen den Bitterfeldern genauso verborgen bleiben, wie sie es inzwischen auch im Stadtbild sind. So verstreicht eine gute Gelegenheit, Bitterfeld zumindest sich selbst zu erklären.