Fußball-EM: Die EM der alten Männer
Modrić, Lewandowski, Ronaldo, Pepe, Neuer, Kroos. Die EM ist eine Abschiedstournee von Männern, die nicht gehen wollen. Auch weil wir sie nicht gehen lassen.
Fußball-EM: Die EM der alten Männer
Er habe eigentlich nur eine einzige Bitte an ihn, Luka Modrić, da oben auf dem Podium, hatte der italienische Journalist gesagt. Zuvor hatte er ihm, dem kroatischen Schmerzensmann, der kurz zuvor mit seiner Mannschaft in letzter Sekunde im Spiel gegen Italien den Ausgleich kassiert hatte, einfach nur gedankt. Für all das Schöne, das Modrić während seiner ganzen Karriere, und auch an diesem Abend wieder, den Menschen geschenkt habe. Und jetzt bat er ihn, bitte niemals damit aufzuhören.
Es war einer der schönsten Momente bisher bei dieser Europameisterschaft der alten Männer. Das Turnier ist eine lange Abschiedstournee von Männern, die nicht gehen wollen. Viele weitere könnten noch folgen. Auch weil wir, die Zuschauer, die Fans, die Liebenden des Spiels, sie nicht gehen lassen.
Es ist eine EM, bei der der 41-jährige, kahlköpfige Abwehrhüne Pepe für Portugal, mittels seiner in Jahrzehnten eingeübten Kunst der Antizipation, gegnerischen Stürmern den Ball schon vom Fuß pflückt, wenn die ihn noch gar nicht am Fuß spüren.
Bei der der 35-jährige Robert Lewandowski das regelwidrige Von-der-Linie-Tänzeln des gegnerischen Torwarts beim Elfmeter schon erkennt und reklamiert, während es geschieht. Den wiederholten versenkte er dann natürlich lässig.
Bei der der 39-jährige Cristiano Ronaldo sich bereitwillig und lächelnd während des Spiels von einem kleinen, auf das Feld gestürmten Jungen fotografieren lässt und er, altersselbstlos, den Ball, den er mit Leichtigkeit hätte im Tor versenken können, dem freien Nebenmann zuschiebt.
Bei der der 38-jährige Manuel Neuer so wirkt, als wolle er die besten Paraden seiner langen Karriere noch einmal nachstellen. Jetzt aber als bewusst inszenierte Kunstwerke der Unbesiegbarkeit. (Dabei geht dann halt manchmal ein bisschen was schief …)
Was wir sehen, wenn wir all diese, im Sportlersinne, alten Herren spielen sehen, ist diese unglaubliche Freude am Spiel. Ist die Kunst, die durch Erfahrung entsteht, wenn man sich selbst und das Spiel so lange studiert hat, dass man wie ein Schachmeister immer schon drei, vier Spielzüge vorausdenken kann. Wie lebendige KIs, die so lange mit Wissen, Spielzügen, gegnerischen Tricks und Psychospielchen gefüttert wurden, bis sie einfach alles wissen, was geschehen kann. Künstlerische Intelligenz könnte man sagen. Dadurch entsteht, solange der Körper mitmacht, eine ungeheure Spielstärke. Aber auch, was für uns ja viel wichtiger ist: eine neue, altersweise Freude am Spiel.
Dieser Erfahrung verdankte es Modrić natürlich auch, dass er sich, nach seinem verschossenen Elfmeter nicht selbst mitleidig zu Boden sinken ließ, sondern einfach sofort weitermachte, sich kurz zurückfallen und dann wieder vorangleiten ließ, und eine halbe Minute später hatte er sein Tor eben doch gemacht.
Später wurde er ausgewechselt, und als in der 98. Minute niemand mehr mit dem Ausgleich der Italiener rechnete, schwenkte die Kamera auf die Bank der Kroaten und man sah, wie Luka Modrić beim letzten Angriff Italiens angstvoll in sein Trikot biss, und drei Sekunden später war der Ball im Tor. Und dann sah man ihn später wieder, mit tiefen Furchen im Gesicht und den traurigsten Augen der Welt, den Man-of-the-match-Pokal in Händen halten. Wie Hohn wirkte er in den Händen dieses selbstlosen Mannschaftsspielers im Augenblick der Niederlage.
Es ist so schwer, loszulassen, was man mit ganzem Herzen liebt. Und auch, sich das eigene Alter einzugestehen. Egal wie tief die Furchen auf den Bildern sind. Ist man wirklich der, den man da sieht? Für erfolgreiche Sportler ist die Gefahr besonders groß, dem Dorian-Gray-Syndrom zu erliegen. Das gibt es sogar als medizinische Diagnose. Sein eigenes Alter zu leugnen, es abzuspalten auf eine Projektion, die jenseits von dir selbst liegt. Wie der Held aus Oscar Wildes Roman. Alt ist nur das Bild, das man der Welt präsentiert. Die Menschen jubeln dir doch zu wie immer schon.
Wie wenigen gelingt es, auf der Höhe des Ruhms abzutreten. Auch da war ja der große Xabi Alonso einst ein besonders großer. Sein Abschiedsbild in Schwarz-Weiß ist unvergessen. Den Rücken zum Publikum, lächelnd blickt er sich um, die Fußballschuhe an den Schnürsenkeln über die Schultern geworfen, steht unter dem Bild: "Farewell, beautiful game!"
Oder wie es jetzt Toni Kroos angekündigt hat. Zum Erstaunen der ganzen Fußballwelt, kündigt einer, für den es seine ganze Karriere lang scheinbar nur bergauf gegangen war, genau auf dem Gipfel seines Ansehens den Abschied an. Noch ein letztes Mal, hoffentlich, vier Wochen lang zaubern. Und dann: Einfach mal luppen lassen, das Leben, das dann beginnt.
Luka Modrić lächelte ganz leicht, als er den herzlichen Dank des Italieners gehört hatte. Und er sagte: "Aus dem Grunde meines Herzens danke ich Ihnen für Ihre Worte." Und fügte hinzu: "Ich würde auch gerne für immer spielen. Aber es wird womöglich eine Zeit kommen, in der ich meine Stiefel an den Nagel hängen muss. Ich spiele weiter. Ich weiß nicht, wie lange noch."