«Selenski muss davon abrücken, dass er die besetzten Gebiete militärisch zurückerobern will»
Wie ist ein Frieden in der Ukraine noch möglich? Der bekannte Ex-Botschafter erklärt die Bedeutung der Konferenz und sagt, warum das Fehlen von Russland ein schwerwiegender Mangel ist.
«Die Schweiz hätte auf einer Einladung Russlands bestehen sollen», sagt Thomas Borer.
Thomas Borer erklärt, was die Friedenskonferenz tatsächlich bedeutet. Er sagt, wo der Bundesrat Fehler gemacht hat, und er ortet einen «schweren Mangel». Er ist überzeugt, dass sich China mit seinem Verhalten keinen Gefallen tut. Borer war Botschafter der Schweiz in Deutschland, und er leitete die Taskforce Schweiz - Zweiter Weltkrieg.
So viele Staatsgäste aufs Mal waren noch nie in der Schweiz.
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Bundespräsidentin Viola Amherd und Aussenminister Ignazio Cassis
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stehen im Rampenlicht der Weltöffentlichkeit. Aber, Herr Borer, was genau bringt die teure Friedenskonferenz, wenn eine der Kriegsparteien nicht dabei ist?
Grundsätzlich würde ich jede Initiative, die den Dialog und eine Beilegung des Kriegs fördert, positiv bewerten. Die Bürgenstock-Konferenz zum Frieden in der Ukraine, wie sie offiziell heisst, hat das Potenzial, Brücken zu schlagen, wo vorher Gräben waren. Allerdings sehe ich die Konferenz nicht als wirklich globales Unterfangen, sondern als längst überfälliges Forum, in dem westlichen Grundwerten verpflichtete Staaten erst ihre Meinungen konsolidieren und sich dann auf eine Stossrichtung einigen können.
Dann ist es also gar nicht so schlimm, dass Russland und sein Verbündeter China nicht dabei sind?
Doch. Das Fehlen der Schlüsselakteure Russland und China ist ein schwerwiegender Mangel. Russland sieht die Konferenz ohnehin als westlich orchestriert und unzureichend ausbalanciert, um seine Sicherheitsinteressen und die «neuen Realitäten» anzuerkennen, bei denen Russland einen Teil der Ukraine annektieren will.
War es denn ein Fehler, dass der Bundesrat Russland nicht eingeladen hat?
Ja. Ich bedaure, dass die Schweiz hier dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski frühzeitig zu grosse Konzessionen machte. Sie hätte auf einer Einladung Russlands bestehen sollen. Moskau hätte diese Einladung wohl abgelehnt und hätte sich dadurch noch mehr ins Abseits gestellt. Das wäre gut für die Schweiz gewesen.
Wladimir Putin verkündete aber schon früh, dass Russland die Konferenz auch bei einer Einladung boykottieren würde.
Dass Russland die Konferenz unter den gegebenen Umständen ablehnt, ist nicht überraschend. Moskau hat klargestellt, dass es nur an Gesprächen teilnehmen wird, die seine Sicherheitsinteressen respektieren und die Realität seiner territorialen Kontrolle anerkennen. Für Moskau wäre die Teilnahme an einer Friedenskonferenz in einem westlichen Setting ein Zeichen der Schwäche.
«Die Konferenz ist ein Dorn im Auge des russischen Regimes.»
Verletzt der Bundesrat durch die Nichteinladung Russlands nicht die Neutralität?
Das Neutralitätsrecht verlangt vom Neutralen lediglich eine militärische Nichtteilnahme am Krieg. Diese Verpflichtung hält die Schweiz strikte ein. Sie liefert auch keine Waffen an die Kriegführenden. Darüber hinaus ist die Schweiz frei, wie sie ihre Neutralitätspolitik interpretiert. Es gibt keine wirtschaftliche oder moralische Neutralität. Als dem Völkerrecht eng verpflichtetes Land darf sie die rechtswidrige Aggression Russlands gegen die Ukraine verurteilen und auch an den Wirtschaftssanktionen gegen Moskau teilnehmen. Sie darf auch eine Friedenskonferenz mit einseitiger Beteiligung durchführen. Dass dies dem russischen Regime nicht passt, ist für unseren Neutralitätsstatus irrelevant. Wir Schweizer lassen unsere Neutralität nicht durch Putin definieren.
Die Chinesen sagen gar, dass die Konferenz unter den gegebenen Bedingungen den Krieg verlängere.
Ich sehe das anders. Die heftigen Reaktionen Russlands gegen die Konferenz und die beleidigenden Angriffe auf Bundespräsidentin Viola Amherd im russischen Staatsfernsehen zeigen deutlich, dass die Konferenz durchaus Wirkung auf Russland hat. Die Konferenz ist ein Dorn im Auge des russischen Regimes. Übrigens ist die Nichtteilnahme Chinas an der Konferenz ein diplomatischer Fehler. China stellt sich in gewisser Weise auf die Seite Moskaus. Das wird die Hardliner in den USA und der EU stärken, die ein «De-Coupling» der westlichen Wirtschaft von China und eine politische Isolation dieses Landes fordern.
Aber das ist doch, was die chinesischen Diplomaten meinen: Durch die Konferenz wird Putins Wut auf den Westen eher noch geschürt.
Das mag sein. Entscheidend ist aber, dass dank der Konferenz das Thema Friedensgespräche jetzt auf dem Tisch liegt. Der Schweiz ist damit bereits ein wichtiger diplomatischer Erfolg gelungen, und sie hat sich in massgeblichen Regionen der Welt Wohlwollen geschaffen. Offensichtlich hat sich Saudiarabien bereit erklärt, eine Folgekonferenz zum Bürgenstock durchzuführen. Kommt es so weit, dann ist klar, dass die Friedensbemühungen der Schweiz nicht einfach versanden. Und über 90 Staaten lassen sich teils hochrangig vertreten. Das zeigt die Bedeutung der Konferenz.
Wie könnte denn ein konkreter Friedensplan aussehen?
Damit ein Friedensplan zustande kommt, braucht es grundsätzlich als Erstes einen Weg zu einem Waffenstillstand oder zumindest einer militärischen Deeskalation.
«Selenski muss in Verhandlungen davon abrücken, dass er alle besetzten Gebiete militärisch zurückerobern will»: Thomas Borer.
Das scheint derzeit aber kaum eine realistische Option zu sein.
Das stimmt. Deshalb müsste man wohl versuchen, die Kriegsparteien dazu zu bringen, dass sie ihre kriegerischen Aktivitäten, während Verhandlungen über einen Waffenstillstand stattfinden, nach und nach, aber systematisch herunterfahren.
Und dann?
Russland und die Ukraine müssten sich dann auf einen Austausch der Kriegsgefangenen einigen. Parallel dazu müssten die westlichen Sanktionen stufenweise gelockert werden – abhängig vom Fortgang der Verhandlungen.
Das klingt alles verlockend einfach.
Das Gegenteil ist der Fall. Denn der eigentliche Knackpunkt ist, dass die Ukraine wohl bereit sein muss, Territorium abzugeben, oder wenigstens darauf verzichten muss, dieses mit militärischen Mitteln zurückzuerobern: Sicherlich die Krim, aber wohl auch Teile der östlichen Provinzen wären davon betroffen. Putin kann sich nicht den Gesichtsverlust einer Niederlage leisten, sonst riskiert er den Machtverlust. Andererseits kann er den Krieg noch jahrelang weiterführen – während die westliche Hilfe mehr und mehr erlahmt und der Ukraine die Soldaten zur Fortsetzung des Kriegs fehlen. Darum muss Selenski in Verhandlungen davon abrücken, dass er alle besetzten Gebiete militärisch zurückerobern will. Das ist schlicht unrealistisch. Beide Seiten werden Konzessionen machen müssen.
Aber warum soll sich die Ukraine auf einen Deal einlassen, der den Aggressor belohnt?
Weil die Ukraine den Krieg schlichtweg nicht gewinnen kann. Sie braucht Frieden, um das Land wieder aufzubauen und die Hoffnung zu erhalten, dass sie vielleicht in einigen Jahrzehnten friedlich die verlorenen Gebiete zurückerhält. Sie muss im Gegenzug aushandeln, dass sie der EU beitreten darf. Andererseits wird sie sich wohl völkerrechtlich dazu verpflichten müssen, militärisch neutral zu bleiben, ähnlich wie die Schweiz. Das würde auch bedeuten, dass die Ukraine nicht der Nato beitreten darf, das würde Russland wohl nicht akzeptieren.
Und wozu müsste man in einem Friedensplan Russland zu verpflichten versuchen?
Russland muss sich völkerrechtlich verbindlich verpflichten, die territoriale Integrität der Rest-Ukraine zu respektieren und sich zumindest teilweise am Wiederaufbau der Ukraine zu beteiligen, z. B. indem es die bereits vom Westen der Ukraine zugesprochenen Zinsen der im Ausland parkierten russischen Staatsvermögen nicht zurückfordert. Sie muss der Ukraine auch freien Meereszugang und Transitrechte für die okkupierten Regionen gewähren.
Es wurde bekannt, dass die Schlusserklärung bereits Tage vor der Konferenz zur Bereinigung zwischen den Ländern hin- und hergereicht wurde. Ist dieses Treffen also bloss noch eine Show, in der die Staatschefs auf das Resultat anstossen?
Bei jeder Konferenz arbeiten Diplomaten aller teilnehmenden Staaten monatelang hinter den Kulissen an den Schlussdokumenten und suchen einen Kompromiss. Während der Konferenz werden solche Dokumente oft nur noch bereinigt und wenig verändert. Aber das Zusammenkommen von Dutzenden von Staatschefs und die förmliche Unterschrift geben dieser Arbeit den formellen Segen und die notwendige Publizität.
Was erwarten Sie als Schlussresultat am Sonntagabend?
Die Konferenz wird einen Friedensprozess anschieben und eine Folgekonferenz, wohl in Saudiarabien, ankündigen. Sie wird einen groben Rahmen und einen Fahrplan für die Erreichung eines Friedens setzen. Ob auch die Aggression Russlands als völkerrechtswidriger Verstoss gegen die UNO-Charta verurteilt wird, ist offen.
Was ist von Putins Waffenstillstandsvorschlag zu halten, den er kurz vor Konferenzbeginn ins Spiel brachte?
Wenig bis nichts. Er wiederholt einfach seine bisherige Position: Die Ukraine muss auf die Krim und die Ostukraine verzichten – und erhält nichts als Gegenleistung. Er will seine völkerrechtswidrige Aggression gesichert erhalten.
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