Bürgergeld und Arbeitslosigkeit: Was die Fans der Marktwirtschaft verschweigen

bürgergeld und arbeitslosigkeit: was die fans der marktwirtschaft verschweigen

In Sachen Sanktionen für Bürgergeldempfänger einig: Huberts Heil und Christian Lindner.

Dies ist ein Open-Source-Beitrag. Der Berliner Verlag gibt allen Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten.

Hubertus Heil, Friedrich Merz und Alice Weidel sind sich einig, dass alle Menschen in Deutschland, die arbeiten wollen, eine Stelle finden können. Deshalb sollen Arbeitslose stärker dazu gebracht werden, einen Job anzunehmen. Heil kündigte schärfere Sanktionen beim Bürgergeld zunächst auf Bild TV an und brachte sie dann durch den Bundestag, Merz bestärkte auf dem Parteitag der CDU nochmals, das Bürgergeld „in seiner jetzigen Form“ abschaffen zu wollen.

Dabei ignorieren die Fans der Marktwirtschaft, dass ein Grundpfeiler ihrer makroökonomischen Steuerung das Vorhandensein von Arbeitslosen ist. Um die Inflation auf zwei Prozent zu begrenzen, muss sich zu jeder Zeit eine bestimmte Menge an Menschen in Arbeitslosigkeit befinden.

Gäbe es keine Arbeitslosen, hätten die Beschäftigten eine enorme Verhandlungsmacht; sie würden stetig versuchen, Löhne oberhalb des Produktivitätswachstums durchzusetzen und damit den Anteil der Profite am Bruttoinlandsprodukt (BIP) zu verringern. Konfrontiert mit höheren Lohnstückkosten würden Firmen ihrerseits die Preise erhöhen, um ihre Profite zu schützen. Steigende Preise sind in der Regel ein Ausdruck der Auseinandersetzung von Beschäftigten und Arbeitgebern um ein jeweils größeres Stück vom Kuchen.

Zentralbanken stehen dabei auf der Seite der Arbeitgeber und sind recht transparent in ihrer Forderung, Preissteigerungen mit Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Nichts anderes ist gemeint, wenn Zinserhöhungen „die Nachfrage bremsen“ und damit den heißen Arbeitsmarkt abkühlen sollen.

Hierfür gibt es vernünftig klingende Konzepte: die „nicht inflationäre Arbeitslosenquote“, die „natürliche Arbeitslosenquote“, „kontrazyklische Nachfragesteuerung“ und so weiter. Was diese Begriffe so fein umschreiben: Wir bekämpfen Inflation mit Arbeitslosigkeit.

Laut Bundesagentur für Arbeit lag die saisonbereinigte Arbeitslosenquote im Mai 2024 bei 5,8 Prozent und damit leicht unter dem Durchschnitt der letzten 20 Jahre. Durch Prekarisierung und Teilzeit kann die „natürliche Arbeitslosenquote“ etwas sinken, da die Unterbeschäftigung steigt. Addieren wir die Menschen in unfreiwilliger Teilzeit, kommen wir sogar auf 6,9 Prozent: 3,5 Millionen Menschen tragen die Bürde der makroökonomischen Steuerung.

Der Widerspruch zwischen dem Druck auf Arbeitslose in den Diskussionen um das Bürgergeld und dem Management hoher Preise durch Arbeitslosigkeit ist unübersehbar. Laut Heil, Merz, Weidel und Co soll Arbeitslosigkeit individueller Faulheit geschuldet sein. Es brauche Anreize, um sich vom Sofa in die Lohnarbeit zu begeben. Tatsächlich ist Arbeitslosigkeit strukturell bedingt.

Firmen schaffen nur neue Jobs, wenn die Nachfrage steigt. Wenn Arbeitslosigkeit bedrohlich sinkt, interveniert die Europäische Zentralbank (EZB), „um die Nachfrage abzukühlen“. In einer Rede im März dieses Jahres sagte die EZB-Präsidentin Christine Lagarde, dass Lohnwachstum noch immer eine Bedrohung für eine Abkühlung der Inflation darstelle, besonders durch geringe [sic!] Arbeitslosigkeit von 6,6 Prozent im Euroraum. Ebenso sagte Jerome Powell, der Präsident der Zentralbank der USA, vergangenes Jahr, dass sich der Arbeitsmarkt abkühlen müsste, um zurück zu zwei Prozent Inflation zu kommen.

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EZB-Präsidentin Christine Lagarde

Seit Beginn der Corona-Pandemie 2020 hat sich der Widerspruch zwischen Profiten und Löhnen nur in eine Richtung entladen: Der Anteil der Profite am BIP stieg 2021 im Vergleich zu 2019 um 8,6 Prozent und lag 2023 immer noch 7,3 Prozent höher als vor der Pandemie (AMECO), die Reallöhne sanken durchschnittlich um 4,3 Prozent (Statistisches Bundesamt). Dass keine Lohn-Preis-Spirale in Gang gesetzt wurde, ist das Resultat geschwächter Gewerkschaften, der Agenda-Reformen und der Schuldenbremse, die Vollbeschäftigung verhindert.

Der Widerspruch zwischen den Rufen nach „Fördern und Fordern“ und der makroökonomischen Steuerung durch Arbeitslosigkeit tut sich jedoch nur auf der Oberfläche auf. Wir leben mit einer Wirtschaftspolitik, die Arbeitslosigkeit aktiv herbeiführt, in der das Elend der Arbeitslosen als Drohmasse für die Lohnforderungen der Beschäftigten dient.

Haben Beschäftigte Angst, ihre Stelle zu verlieren, zum Beispiel weil die Arbeitslosigkeit hoch ist und sie gegebenenfalls von der Bundesagentur für Arbeit bestraft werden, wenn sie nicht jedes Arbeitsverhältnis annehmen, verringert sich ihre Verhandlungsmacht in Tarifverhandlungen. Je größer das Drohpotenzial, in Arbeitslosigkeit zu landen oder einen „zumutbaren“ Job anzunehmen, wie Hubertus Heil es gerne nennt, desto schwächer die Forderungen nach angemessenen Löhnen und verbesserten Arbeitsbedingungen.

Wer also die Bedingungen der Arbeitslosen verschlechtern will, schadet eigentlich allen Beschäftigten in Lohnverhandlungen – und erhöht in erster Linie die Verhandlungsmacht der Arbeitgeber. Beim ehemaligen Blackrock-Aufsichtsratschef Friedrich Merz ist das wenig überraschend, bei Hubertus Heil von der SPD dagegen eine Tragödie.

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Merz’ Position in Bezug auf Arbeitslose überrascht wenig.

In der öffentlichen Debatte ist die tatsächliche Funktion der Arbeitslosen natürlich verschleiert. Der Kampf gegen das Bürgergeld ist nur auf der Oberfläche ein Kampf gegen Arbeitslose, tatsächlich handelt es sich um einen Kampf gegen alle Beschäftigten. Um das individuelle Interesse der Arbeitgeber an schwachen Beschäftigten als das allgemeine Interesse der Bevölkerung zu artikulieren, werden Arbeitslose als faule Taugenichtse dargestellt, die den Beschäftigten, also „den Steuerzahlern“, auf der Tasche liegen.

Dass seit Einführung des Bürgergeldes nicht mehr Menschen aus einem sozialversicherungspflichtigen Job ins Bürgergeld gewechselt sind, der Stand sogar historisch niedrig ist – geschenkt.

Niedrige Lohnstückkosten sind das Rückgrat des deutschen Exportüberschusses. Das war nicht zuletzt Gerhard Schröder klar, als er in Davos 2005 im Rausch der Agenda-Politik von sich gab: „Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt (…). Wir haben seit Jahren in Deutschland eine stagnierende Lohnstückkosten-Entwicklung. Gut für Investitionen in diesem Land.“

Ein Niedriglohnsystem, das mehr exportiert als importiert, benötigt selbstverständlich Länder, die mehr importieren, als sie exportieren. Sind diese Ungleichgewichte strukturell, wie in der Eurozone, werden sich Länder mit einem Importüberschuss, wie zum Beispiel Griechenland, verschulden müssen und damit – Hand in Hand mit den Arbeitslosen – die Bürde deutscher Niedriglohnpolitik tragen.

Nun haben ehrliche Befürworter unserer Marktwirtschaft zwei Möglichkeiten: Entweder akzeptieren sie Inflation, indem wir mit Staatsausgaben Vollbeschäftigung herbeiführen. Dann wäre Arbeitslosigkeit ein individuelles Problem. Oder aber wir bekämpfen die Inflation weiterhin mit Arbeitslosigkeit. Dann sollten soziale Sicherungssysteme die Bürde belohnen, die Arbeitslose für uns alle auf sich nehmen.

Simon Grothe promoviert an der Universität Genf zu den makroökonomischen Auswirkungen von Ungleichheit.

Das ist ein Beitrag, der im Rahmen unserer Open-Source-Initiative eingereicht wurde. Mit Open Source gibt der Berliner Verlag allen Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten. Ausgewählte Beiträge werden veröffentlicht und honoriert.

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