Fußball-EM: Warum der EM-Modus unfair ist
Der aktuelle Turniermodus bevorzugt Mannschaften, die später spielen. Weil die mehr wissen als alle anderen, haben sie einen entscheidenden Vorteil.
Ungarns Martin Ádám mag den Turniermodus sicher auch nicht.
Das Problem ergibt sich aus dieser Zahl: 24. Seit 2016 nehmen statt 16 Mannschaften 24 an Europameisterschaften teil. Das gibt mehr Geld und ist erst einmal schön für kleinere Nationen. Georgien hätte es wohl im alten Modus nicht erstmals zur EM geschafft. Doch die sechs Vierergruppen machen die gerechte Besetzung eins Achtelfinales schwierig. Normalerweise kommen bei großen Turnieren immer die zwei Gruppenbesten weiter, das wären aber nur zwölf Teams. Für ein Achtelfinale, die erste K.-o.-Runde, braucht es allerdings 16. Und so qualifizieren sich seit 2016 auch die vier besten Gruppendritten – und genau das macht den EM-Modus unfair.
Die besten Gruppendritten werden nämlich nicht an einem Tag ermittelt, dafür müssten sämtliche Gruppenspiele der letzten Runde zeitgleich stattfinden. Durch die versetzten Spielzeiten aber haben jene Nationen einen Vorteil, die später dran sind. Also vor allem die Teams in den Gruppen E und F, die am Mittwoch ihre letzten Spiele austragen. Denn wer später spielt, weiß, worauf er sich einstellen muss. Je später das Spiel, desto größer das Vorwissen. Wer als Letztes spielt, weiß sogar genau, welches Ergebnis zum Turnierverbleib reicht.
Die später startenden Teams können ihr Risiko viel besser kalkulieren. Im Spiel der Slowakei gegen Rumänien in der noch komplett offenen Gruppe E würde demnach beiden ein Unentschieden zum Weiterkommen reichen. Selbst wenn eines der beiden Teams nur Dritter wird, wissen sie, dass sie mit vier Punkten zu den vier besten Gruppendritten gehören werden – eben weil sich in den Tagen zuvor schon zwei schlechtere Gruppendritte gefunden haben. Die Slowakei und Rumänien wissen also, wie sie spielen müssen. Andere wussten das nicht.
In Gruppe B war für die Italiener gegen Kroatien die Risikoabwägung recht schwierig. Sie lagen bis kurz vor Ende der Nachspielzeit 0:1 zurück. Was tun? Auf den Ausgleich drängen oder das Ergebnis sichern, in der Hoffnung, dass man auch mit drei Punkten und einem Minustor zu den besten Gruppendritten gehört? Also angreifen oder lieber abwarten, um bloß nicht noch ein Gegentor zu bekommen, was die Ausgangslage verschlechtern würde? Sie wussten es nicht. Am Ende machten sie in der Nachspielzeit ihr Tor zum 1:1, was sie sicher ins Halbfinale brachte.
Als erstes aller Teams erreichte Ungarn aus der deutschen Gruppe A Platz drei mit einem späten Sieg gegen Schottland (1:0). Dass sie dafür gewinnen mussten, stand vor dem Spiel fest. Dass sie auch so hoch wie möglich gewinnen mussten, konnten sie nur ahnen, nicht aber wissen. Aktuell steht Ungarn auf dem vierten Platz der Gruppendritten, mit einem Torverhältnis von minus drei. Wie viel das wert ist, war damals noch nicht klar. Heute weiß man: Es wird eng.
Auch Ralf Rangnick und seine Österreicher gehörten zu den Profiteuren des EM-Modus. Das klingt erst mal seltsam, weil sie ihre Gruppe gar gewinnen konnten. Aber das nötige Vorwissen um die Dritten der bereits gespielten Gruppen änderte ihre Herangehensweise. "Wir haben, glaube ich, eine ziemlich unerwartete Aufstellung gewählt, mit der kaum jemand gerechnet hat", sagte Rangnick nach dem Spiel. "Wir konnten mit dieser Startformation von Anfang an all in gehen." Die Österreicher konnten wegen des Tors der Italiener mehr riskieren. Wäre dieses Tor nicht gefallen, hätte Rangnick wohl eine andere Startelf gewählt, erklärte er. So aber konnte Österreich sich sicher sein, es auch bei einer knappen Niederlage ins Achtelfinale zu schaffen. Weil die Kroaten mit nur zwei Punkten und Ungarn mit einem schlechten Torverhältnis auf jeden Fall zwei schlechtere Dritte gewesen wären. Rangnick: "Dass wir das Spiel heute nicht mit fünf Toren Unterschied verlieren, egal mit welcher Mannschaft, das war mir und uns schon klar."