Belarus und Lukaschenko: Gehört der Sanktionskurs der Bundesregierung auf den Prüfstand?
Alexander Lukaschenko und Wladimir Putin im Unabhängigkeitspalast im Stadtzentrum von Minsk
Das Land zwischen Polen und Russland, eine Art europäische terra incognita, steht seit Beginn des Krieges in der Ukraine immer wieder in den Schlagzeilen: Belarus. Von Alexander Lukaschenko und seinem Kampf gegen die demokratische Opposition über Migration und die sogenannte Belarus-Route bis hin zu russischen Atomwaffen, die weniger als 900 Kilometer von Berlin entfernt gelagert sind. Für die Bundesregierung sicherlich kein einfaches Fundament für eine längerfristige Belarus-Strategie.
Dabei sah die Lage vor etwa fünf Jahren noch gänzlich anders aus. Der damalige Außenminister Heiko Maas (SPD) hieß in Berlin seinen belarussischen Amtskollegen Wladimir Makej willkommen. Der ranghöchste Diplomat aus Minsk sprach über Belarus als „osteuropäische Schweiz“, das den Friedensprozess in der Ostukraine voranbringen könne; über die „Intensivierung“ der Beziehungen zwischen Deutschland und Belarus oder die „ausgeglichene Politik zwischen den Polen“ – Makej träumte von einem Belarus als Brücke zwischen Brüssel und Moskau. Wenig später wurde die Belarussisch-Deutsche Geschichtskommission ins Leben gerufen. Die Anzeichen standen in jedweder politischen Hinsicht auf Annäherung.
Doch 56 Monate später – im November 2022 – ist nicht nur Makej plötzlich und überraschend verstorben, sondern auch die Beziehungen zwischen Berlin und Minsk liegen auf Eis. „Die von massiven Fälschungen gekennzeichnete Präsidentschaftswahl am 9. August 2020, die weitere drastische Verschlechterung der Menschenrechtssituation in Belarus sowie die Unterstützung des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine belasten die bilateralen Beziehungen zu Deutschland sowie zur Europäischen Union schwer“, heißt es in einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage des Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko vom BSW. Die Zusammenarbeit zwischen Diplomaten aus Berlin und Minsk wurde deshalb auf ein Minimum reduziert.
Einen kompletten Abbruch der Beziehungen – wie von mehreren belarussischen Oppositionellen seit Jahren erhofft – gibt es jedoch auch vier Jahre nach den bis dato letzten Präsidentschaftswahlen nicht. So hält die deutsche Botschaft in der Hauptstadt Minsk weiterhin sogenannte Arbeitskontakte mit belarussischen staatlichen Stellen aufrecht. Ein Beispiel: Das derzeit FDP-geführte Verkehrsministerium unterhält Arbeitskontakte mit dem belarussischen Ministerium für Transport und Kommunikation zwecks eines „jährlichen Austauschs“ in Fragen des grenzüberschreitenden Güterverkehrs.
Deutschlands Ex-Außenminister Heiko Maas, aufgenommen bei einer Pressekonferenz, zusammen mit seinem ehemaligen belarussischen Amtskollegen Wladimir Makej in Berlin im Oktober 2019.
Während der Gesprächskanal zu Lukaschenko und den Behörden in Minsk also stetig reduziert wurde, ist Lukaschenkos innenpolitische Erzfeindin Swetlana Tichanowskaja immer wieder hierzulande zu Gast im Kanzleramt oder im Außenministerium. Die 41-Jährige lebt seit ihrer erzwungenen Flucht mit ihren Kindern in Litauen, ihr Ehemann Sergej sitzt seit 2020 in einem belarussischen Hochsicherheitsgefängnis.
In den Gesprächen mit der ersten Riege der Bundespolitik fordert die Belarussin immer wieder die Freilassung von politischen Gefangenen, spricht über Strategien für einen Machtwechsel, fordert immer schärfere Sanktionen gegen Staatsunternehmen und das Minsker Polit-Establishment oder bittet um die Anerkennung eines neuen „nationalen belarussischen Passes“ – in vielen Angelegenheiten vergeblich.
Weder konnte Machthaber Lukaschenko von außen oder innen gestürzt werden, noch scheinen die EU-Sanktionspakete gegen die 233 belarussischen Einzelpersonen und 37 Organisationen einen nachhaltigen Effekt gebracht zu haben. Für den Ex-Linken-Parteivorstand und Abgeordneten der Gruppe BSW im Bundestag Andrej Hunko gehören die restriktiven Maßnahmen auf den Prüfstand. „Der scharfe Sanktionskurs der Bundesregierung und der EU seit August 2020 hat Belarus an die Russische Föderation angebunden und die autoritäre Entwicklung im Lande gefördert“, so der 60-Jährige.
Weiter sagt er der Berliner Zeitung: „Wenn die Souveränität von Belarus, ihre Zivilgesellschaft und die Situation der politischen Gefangenen wirklich von Bedeutung sind, muss die Bundesregierung ein Mindestmaß an diplomatischer Realpolitik aufbringen, anstatt auf dem rein konfrontativen Sanktionskurs zu beharren.“
In der Tat sorgt die politische Realität innerhalb von Belarus für eine Art Stillstand, horcht man in Oppositionskreise hinein. Politische Häftlinge konnten bisher noch nicht im großen Stil aus den Gefängnissen rausgeholt werden. Der Menschenrechtsorganisation Viasna zufolge sitzen Ende Juni dieses Jahres 1422 Personen aus vermeintlich politischen Gründen in Haft – auf die Bevölkerungszahl von etwa neun Millionen Einwohnern im Land gerechnet, ist das der weltweit höchste Wert an politischen Gefangenen.
Selbst bei Tichanowskajas alternativen Reisepass-Vorschlag blockt die Bundesregierung. „Die Ausstellung von Pässen ist Staaten als Völkerrechtssubjekten vorbehalten. Das Projekt ‚New Belarus Passport' erfüllt diese Anforderung nicht“, so die Bundesregierung. Hintergrund ist ein Erlass Lukaschenkos, wonach im Ausland lebende Belarussen in den diplomatischen Vertretungen keine Pässe mehr beantragen oder verlängern dürfen. Besonders oppositionelle Flüchtlinge befürchten deshalb ihre Festnahme, sollten sie nach Belarus zurückkehren. Im Gegensatz zur Bundesregierung zeigten sich die baltischen Staaten Tichanowskajas Idee eines neuen Reisepasses offener gegenüber.
Das politische Berlin verweist stattdessen auf die jeweils zuständigen Ausländerbehörden, die zu entscheiden hätten, ob es für Betroffene aus Belarus „zumutbar ist, einen neuen Pass vom Heimatstaat zu erhalten, oder ob ein deutsches Passersatzpapier ausgestellt“ werden müsse. „Die besonderen Umstände für die Annahme der Unzumutbarkeit der Passbeschaffung sind von den betroffenen Personen konkret darzulegen und nachzuweisen“, heißt es von der Bundesregierung.
Zwar hätten das SPD-geführte Innenministerium unter Nancy Faeser und das Grünen-geführte Auswärtige Amt unter Leitung von Annalena Baerbock die Bundesländer über die politische Lage in Belarus informiert – schlussendlich liegt die Entscheidung allerdings im Ermessen des einzelnen Mitarbeiters in der Ausländerbehörde.