Russland wegen Sanktionen von der EM ausgeschlossen: Wohin steuert der Fußball?
Da konnten es die russischen Fans noch nicht wissen: Das dritte Gruppenspiel bei der Euro 2020 in Kopenhagen war das bis dato letzte Spiel einer russischen Nationalmannschaft bei einem großen Turnier.
An einem Sonnabend in Basel, im Jahr 2008, griffen die Russen nach den Sternen. Andrej Arschawin, Roman Pawljutschenko und Yuri Zhirkow führten die Sbornaja mit einem grandiosen 3:1-Erfolg nach Verlängerung gegen die favorisierten Holländer ins EM-Halbfinale. Wenige Monate zuvor gewann Zenit St. Petersburg den Uefa-Cup, den zweitwichtigsten Vereinstitel in Europa. Der Sommer 2008 war die Sternstunde des russischen Fußballs. Der wollte in den Folgejahren mit den ganz großen Sportnationen auf dem Kontinent, mit England, Spanien, Italien und Deutschland, konkurrieren.
Doch vom fußballerischen Zenit ist die in Russland beliebteste Sportart – noch vor Eishockey – derzeit Lichtjahre entfernt. Wegen des Überfalls der russischen Streitkräfte auf die Ukraine wurden russische Sportmannschaften in sämtlichen Sportarten ausgeschlossen. Und deshalb wird auch zum ersten Mal seit der EM 2000, die in Belgien und den Niederlanden stattfand, keine russische Mannschaft bei dem europäischen Kontinentalturnier an den Start gehen.
Für die heutigen russischen Starspieler wie Alexander Golovin vom AS Monaco oder den frischen Europa-League-Sieger Alexej Miranchuk von Atalanta Bergamo sind die sportpolitischen Folgen des russischen Angriffskriegs fatal. Mit jeweils 28 Jahren befinden sich beide in der sogenannten Blüte ihrer Sportlerkarriere. Bei der Heim-WM vor acht Jahren war die Sbornaja nah dran, die Überraschungsmannschaft des Turniers zu werden. Unter dem Trainer Stanislaw Tschertschessow, einst Torwart bei Dynamo Dresden, qualifizierten sich die Russen mühelos fürs Achtelfinale und schossen dort die favorisierten Spanier aus dem Turnier; im Viertelfinale scheiterte man erst im Elfmeterschießen gegen den späteren Vizeweltmeister Kroatien.
Doch von den lauwarmen russischen Sommernächten in 2018 – die Russen blicken auf ihre erfolgreiche Heim-WM ähnlich zurück wie die Deutschen auf das Sommermärchen 2006 – ist der Fußball im geografisch größten Land der Erde in eine tiefe Wintertristesse gefallen. Statt in großen Turnieren gegen Deutschland, Frankreich oder Polen zu spielen, waren Testspiele gegen Usbekistan, Kuba, Irak oder den Iran das höchste der Gefühle.
Da dem russischen Spitzenfußball, insbesondere der Nationalmannschaft, gleichwertige Gegner fehlten, diskutierte man im sportpolitischen Moskau mehrere Alternativen. So wurde bis vor einem Jahr ein Wechsel in den asiatischen Fußballverband (AFC) kolportiert – und später doch verworfen. „Nein, ein Wechsel wird nicht kommen“, sagte der Vizepräsident des russischen Fußballverbandes (RFS) Ahmed Ajdamirow. „Russland ist Europa.“
Ein Verbandswechsel hätte zudem unkalkulierbare Folgen gehabt. Denn ein Comeback auf der europäischen Fußballbühne – vorausgesetzt der Krieg in der Ukraine wird enden – wäre nicht so einfach. Ein Wechsel in die AFC hätte vor allem für russische Klubs finanzielle Folgen gehabt, da auch in Zukunft eine Teilnahme etwa an der Champions League ausgeschlossen wäre. Zudem war fraglich, ob der Weltverband Fifa den Wechsel überhaupt akzeptiert hätte; auch in Asien gibt es mit Australien, Japan und Südkorea Verbandsmitglieder, die sich gegen eine Aufnahme Russlands positionierten.
Ein sportpolitischer Verbandswechsel wäre kein Novum in der Fußballgeschichte. Der israelische Fußballverband spielte seit seiner Gründung bis 1974 in Asien. Nachdem der AFC Israel ausschloss, wechselte man zeitweise in die Ozeanische Fußballkonföderation, ehe die Israel Football Association 1991 in die Uefa aufgenommen wurde. Eher sportlicher Natur war der Wechsel Australiens aus dem ozeanischen Fußball in die AFC. In Down Under hoffte man, die Qualität des einheimischen Fußballs zu verbessern und sieht sich mit vier WM-Teilnahmen in Folge bestätigt. 2002 wechselte auch der kasachische Fußballverband aus rein sportlichen Beweggründen aus Asien nach Europa.
Die russischen Wechselgedanken in den asiatischen Verband speisten sich in den vergangenen Jahren besonders aus dem Mangel an Testspielen. Doch die sportpolitische Lage in Europa hat sich nach mehr als 830 Tagen Krieg verändert. Ende März gastierte die serbische Nationalmannschaft in Moskau und ließ sich für den Frühjahrskick in der neuen Dynamo-Arena fürstlich bezahlen. Serbien erhielt für den Kurztrip nach Russland eine Antrittsprämie in Höhe von 250.000 Euro. Trotz des Ausschlusses des russischen Verbandes von allen Wettbewerben hatten Jovic, Kostic, Tadic und Co. kein Problem mit der Partie. Uefa-Präsident Aleksander Čeferin hatte sich in einem Interview mit dem Guardian ähnlich geäußert. „Jetzt spielen sie ein Freundschaftsspiel: Na und?“, so Čeferin.
Und das war nur der Beginn einer Testspiel-Serie mit weiteren europäischen Mannschaften. Erst kürzlich gastierten die Russen für ein „Freundschaftsspiel“ in Belarus; in Minsk gewann die Sbornaja mit 4:0. Zudem wird es russischen Medienberichten zufolge im Frühjahr 2025 zu einem Testspiel gegen Ungarn kommen. „Wir besprechen die Durchführung eines Spiels mit der Führung des ungarischen Fußballverbandes“, sagte der Präsident des russischen Fußballverbandes Alexander Djukow kurz nach dem Serbien-Spiel. Es wird somit zum ersten Mal seit Beginn des Krieges zu einer sportlichen Begegnung zwischen einem Mitgliedsstaat der EU und Russland kommen.
„Gemeinsam sind wir stark“ steht auf einem Banner während des Testspiels zwischen Belarus und Russland Anfang Juni.
Wie die Berliner Zeitung aus Funktionärskreisen erfahren konnte, seien auch Spiele gegen Aserbaidschan und die Türkei in Planung – es habe zudem Ideen gegeben, die bulgarische und griechische Nationalmannschaft, beides Länder mit einer gewissen Affinität zu Russland, für Testspiele anzufragen. Das Ziel der Moskauer Sportfunktionäre ist: höherklassige, am besten europäische Gegner aus den Top-100 der Fifa-Rangliste für Testspiele nach Russland zu locken – für einen großzügigen und unmoralischen Obolus. Zahlungsfreudige russische Großsponsoren sollen involviert sein und der Sbornaja einen Türspalt in die internationale Sportpolitik öffnen.
Was Beobachter des russischen Fußballs zudem feststellen: Uefa-Gelder fließen auch nach mehr als zwei Jahren Krieg weiterhin aus Nyon nach Russland. „Wir arbeiten weiterhin mit der Uefa zusammen, sie hilft uns bei der Umsetzung von Projekten“, so der russische Fußballpräsident Djukow, der auch heute noch im Uefa-Exekutivkomitee sitzt. „Jedes Jahr erhalten wir von der Uefa denselben Betrag wie andere Verbände, die unserer Größe entsprechen“, sagte Djukow auf einer Pressekonferenz. Die Gelder fließen hauptsächlich in die russische Nachwuchsarbeit sowie in die Ausbildung von Schiedsrichtern. Entlarven Djukows Aussagen die europäische Sanktionspolitik?
„Russland sitzt immer noch mit am Tisch“, heißt es in Gesprächen mit Sportfunktionären, die anonym bleiben möchten. In Hinterzimmertreffen der Uefa, fernab der Weltöffentlichkeit, gebe man sich immer noch die Hand und bleibe im Dialog, so der Tenor. Man warte, bis politische Entscheidungsträger die Teilnahme Russlands am Weltsport wieder freigeben – dann werde die Sbornaja auch wieder in die europäische Fußballfamilie aufgenommen. Denn am Ende bleibt der russische Fußball ein für Europa relevantes Geschäftsfeld: ein Mix aus zahlungsfähigen (Gas- und Öl)-Sponsoren sowie ein großer Markt, der mit Champions League und Europameisterschaften bespielt werden möchte.
Doch wenn am Freitag hierzulande die Europameisterschaft losgeht, müssen die russischen Sportkanäle im Staatsfernsehen auf ihre Mannschaft verzichten. Die TV-Experten sind übrigens: Andrej Arschawin und Stanislaw Tschertschessow.