Die Grünen sind ratlos
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Die Grünen sind ratlos
Jetzt ist bei Lang, Habeck, Baerbock & Co. wohl erstmal strategische Nachdenklichkeit angesagt (Archivbild). Markus Pichlmaier/imago
Die Partei der Grünen steht vor weiteren desaströsen Wahlergebnissen, eine Strategie dagegen ist nicht in Sicht.
Bei den Grünen weiß man in diesen Tagen nicht so recht weiter. „Ich find’s total schwer“, sagte eine Frau aus der Führungsriege nach dem Urnengang und meinte die Konsequenzen aus dem desaströsen Ergebnis bei der Europawahl, das die Partei mit 11,9 Prozent wieder auf das alte Niveau einer gehobenen Oppositionspartei katapultierte.
Die Grünen wissen spätestens jetzt, dass sie unter Druck von zwei Seiten sind: von jenen, denen sie, siehe Heizungsgesetz, zu grün sind – und von den anderen, denen sie nicht grün genug sind. Damit ist auch Stammwählerschaft gemeint, die entweder ins Lager der Nichtwähler oder zu Volt abgewandert ist. Blickt man auf die vorangegangenen Wahlen, ist eines klar: Das Ergebnis war keine Eintagsfliege. Der Niedergang wirdTrend.
Volkspartei nicht in Sicht
Als Annalena Baerbock noch Parteivorsitzende war, da sagte sie mal, man müsse nicht alle Positionen der Grünen teilen, um sie zu wählen. Mit ihrem Co-Vorsitzenden Robert Habeck war sie sich in einem Punkt einig: Beide wollten die Grünen um das Thema Klimaschutz herum breit aufstellen – und dabei im Zweifel weniger scharfkantig. Sie sollten Volkspartei werden.
Die Ampelkoalition hat weitere Substanz gekostet. Der Klimaschutz ist durch das Heizungsgesetz und die teils schamlose Ausnutzung seiner Mängel in Verruf geraten. Die Co-Sprecherin der Grünen Jugend, Katharina Stolla, sagte eben erst, nicht zuletzt der Nachwuchs habe jetzt andere Sorgen, sprich: soziale Nöte. In der Flüchtlingspolitik gibt es nur noch wenige, die die Fahne der Humanität entschlossen hochhalten: Filiz Polat und Julian Pahlke aus der Bundestagsfraktion etwa – oder der Europaabgeordnete Erik Marquardt. Als Friedenspartei gelten die Grünen hingegen schon länger nicht mehr, sondern als diejenigen, die wie der einstige Fraktionsvorsitzende Anton Hofreiter immer noch mehr Panzer für die Ukraine fordern.
Vizekanzler Habeck muss eher die Schwäche der Konjunktur erklären als den Umstand, dass Deutschland die Klimaziele verfehlt; schließlich sind beide Zuständigkeiten in seinem Ministerium versammelt. Von der Kindergrundsicherung hört man nichts mehr. Das grüne Prestigeprojekt steht vor dem Aus.
Der Verlust eines klaren Profils spiegelt sich in den Formen. Kontroverse Debatten finden bei den Grünen überwiegend hinter verschlossenen Türen statt. Öffentlich wird jeder Redebeitrag der Spitzenleute mit stehenden Ovationen quittiert – wie zuletzt beim Kleinen Parteitag.
Auch sonst passen sich die Grünen an. Wenn die Union im Bundestag mit einem Untersuchungsausschuss zum Atomausstieg droht, dann drohen sie mit einem Ausschuss zu Nord Stream 2. Das Rockige ist überwiegend Behauptung, bisweilen Inszenierung – aber kaum mehr gelebte Realität. Dies gilt ungeachtet der Tatsache, dass Union und FDP das Gegenteil glauben machen wollen – von AfD und BSW ganz zu schweigen.
Wie kommt die Partei aus dem Tief? Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann fordert mehr Einfluss für Habeck. Dabei steht der beim linken Flügel nicht allein in dem Ruf, Positionen allzu bereitwillig zu räumen, um in der Rolle des Versöhners zu bleiben, der die Botschaft verbreitet: So grün, wie ihr da draußen glaubt, sind wir gar nicht. Kretschmanns Wunschnachfolger Cem Özdemir spielt mit dem Gedanken, Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer zurückzuholen. Dieser hatte die Grundsatztreue seiner Partei jahrelang getestet und war schließlich ausgetreten.
Die Grünen fallen auch sonst kaum durch Standfestigkeit auf. Während SPD und FDP im Haushaltsstreit rote Linien markieren, sagte Fraktionschefin Katharina Dröge: „Regieren heißt, Kompromisse zu machen.“ Co-Fraktionschefin Britta Haßelmann betonte: „An uns liegt’s nicht.“ Und fügte nach einer Kunstpause hinzu: „Nicht immer.“ Das klingt maximal defensiv. Verglichen mit Sozialdemokraten und Liberalen scheinen die Grünen vor einem Koalitionsbruch derzeit am meisten Angst zu haben. Sie haben sich an das eigene Mantra gefesselt. Es besagt mittlerweile seit Jahren: „Wir sind bereit, Verantwortung zu übernehmen.“ Koster es, was es wolle.
Zwar versprach Co-Parteichef Omid Nouripour nach der Europawahl eine grundsätzliche Analyse. Man werde „viele Steine umdrehen“, sagte er. Geschehen ist nichts. Überhaupt verstehen sich die Vorsitzenden als Unterstützer der Kabinettsmitglieder, nicht als deren Korrektiv.
Die nähere Zukunft verheißt wenig Gutes. Bei der Landtagswahl in Thüringen könnten die Grünen an der 5-Prozent-Hürde scheitern. In Brandenburg und Sachsen steht es auch nicht zum Besten. Die Entscheidung für eine Kanzlerkandidatin oder einen Kanzlerkandidaten könnte danach obsolet sein.