Märkte Insight: Das verdrängte Schuldenproblem der Staaten
Michael Maisch data-portal-copyright=
Lange spielte die Haushaltspolitik der Staaten an den Kapitalmärkten kaum eine Rolle. Doch das ändert sich gerade – in Europa, aber vor allem in den USA, weiß Handelsblatt-Redakteur Michael Maisch.
Eine der wohl bekanntesten Börsenweisheiten lautet: „Politische Märkte haben kurze Beine.“ Will heißen, dass politische Verwerfungen in der Regel keine dauerhafte Wirkung auf das Geschehen an den Börsen haben.
Wie gewagt diese These ist, hat sich in den vergangenen Wochen gezeigt, als die überraschend angesetzten Parlamentsneuwahlen in Frankreich für heftige Turbulenzen an den Anleihe- und Aktienmärkten sorgten. Und man wagt ganz sicher keinen Außenseitertipp, wenn man darauf setzt, dass es rund um die US-Präsidentschaftswahlen im November ebenfalls unruhig an den Märkten wird.
Dabei geht es bei den Marktturbulenzen eigentlich gar nicht so sehr um Politik – zumindest nicht im Sinne von Parteipolitik oder Weltanschauung –, sondern um knallharte ökonomische Fakten, genauer gesagt um die Staatsverschuldung.
Viele Jahre mussten sich die großen westlichen Wirtschaftsmächte kaum Gedanken über ihre Schulden machen. Mit drastischen Zinssenkungen und enormen Anleihekäufen sorgten die Notenbanken für mikroskopische Zinsen, zuerst um den Kollaps des Finanzsystems und der Euro-Zone zu verhindern. Dann kam die Pandemie und mit ihr neue monetäre Hilfsprogramme, die eine tiefe Rezession verhindern sollten.
In diesem Umfeld musste man als Politiker kein allzu schlechtes Gewissen haben, wenn man die Schuldenprobleme des eigenen Landes verdrängte. Mit der Rückkehr der Inflation und der Zinsen hat sich das gründlich geändert.
Die Sorgen wegen Frankreichs hoher Staatsverschuldung, die nach den Wahlen durch teure Versprechungen der Parteien noch höher werden könnte, wurden in den vergangenen Wochen en détail thematisiert. Die Experten von Allianz Global Investors haben die Gefahren treffend zusammengefasst: „Wir sehen ein Risiko, dass sich große institutionelle Investoren von französischen Staatsanleihen abwenden. Dies könnte weltweit zu erheblichen Umwälzungen führen.“
Aber nicht nur Frankreich und andere europäische Staaten haben ein Schuldenproblem. Auch die ökonomische Supermacht USA muss sich allmählich Gedanken darüber machen, wo die Schmerzgrenze der Investoren liegt. Mitte Juni hatte das Congressional Budget Office gewarnt, dass das Defizit im US-Haushalt in diesem Jahr auf 1,9 Billionen Dollar steigen wird statt der im Februar geschätzten 1,5 Billionen.
Ajay Rajadhyaksha von der britischen Großbank Barclays fand dafür einen anschaulichen Vergleich: Die USA „geben Geld aus wie ein betrunkener Seemann auf Landgang“.
Stabilität des Finanzsystems in Gefahr
Der Internationale Währungsfonds (IWF) drückt es etwas vornehmer aus. Im Frühjahr warnte der Fonds, dass die Investoren inzwischen höhere Risikoprämien für US-Staatsbonds forderten und dass das Folgen für die gesamte Finanzwelt habe. Wenn am größten und wahrscheinlich wichtigsten Kapitalmarkt überhaupt die Renditen steigen, treibt das die Finanzierungskosten rund um den Globus in die Höhe. Die dadurch verursachten Turbulenzen könnten das gesamte Finanzsystem destabilisieren, warnte der IWF im April.
Dass solche Warnungen nicht übertrieben sind, zeigte sich im Herbst 2022, als Zweifel an der Schuldentragfähigkeit der USA die Renditen für zehnjährige Staatsbonds sprunghaft auf über fünf Prozent steigen ließen.
Das war der höchste Wert seit der Finanzkrise. Seither haben sich die Renditen wieder beruhigt, auch weil die Investoren noch immer auf Zinssenkungen in den USA hoffen.
Doch diese Hoffnung schwindet immer mehr, und spätestens seit Mai ist die Nervosität an den Anleihemärkten zurück. Die Ansteckungswirkung auf die Aktienbörsen hält sich bislang noch in Grenzen. Doch das könnte sich sehr schnell ändern.
Es lohnt sich auf jeden Fall, ein Auge darauf zu haben, ob die angeblich so kurzen Beine der politischen Börsen nicht zusehends länger werden.