Regierungserklärung: In Fremdscham vereint – Scholz-Merz-Duell im Bundestag
Kanzler Olaf Scholz (Mitte) und Vizekanzler Robert Habeck (l.) lauschen Oppositionschef Friedrich Merz im Bundestag: Schönredner gegen Schwarzmaler. data-portal-copyright=
In seiner Regierungserklärung zum EU- und Nato-Gipfel zeichnet der Kanzler das Bild eines prosperierenden Deutschlands. Für den Oppositionschef hat das „etwas Karikaturenhaftes“.
Eigentlich soll es um die anstehenden Gipfeltreffen von Europäischer Union und Nato gehen. Doch die Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und die anschließende Aussprache im Bundestag drehen sich dann doch vor allem um Deutschland. Oder genauer gesagt: um zwei Deutschlands.
Das eine Deutschland beschreibt der Regierungschef zum Auftakt in seiner rund dreißigminütigen Rede. Ein Land, das die notwendigen Weichen gestellt hat hin zur Klimaneutralität, das Stromtrassen im Rekordtempo ausbaut und Hightech-Investoren anzieht.
Eine Regierung, die „sachorientierte, kollegiale Gespräche“ über den Haushalt führt, für sozialen Zusammenhalt und mehr Wachstum sorgt und die irreguläre Migration managt. Und eine Koalition, die klar zu Europa und zum transatlantischen Bündnis steht.
Für Oppositionsführer Friedrich Merz hat dieses Bild, das Scholz da gerade vor seinen Augen gezeichnet hat, „etwas Karikaturenhaftes“.
In jedem Standortranking rausche Deutschland nur so nach unten, das selbst von Ampelpolitikern als kranker Mann Europas bezeichnet werde, hält der CDU-Chef dem Kanzler entgegen.
Merz zeichnet ein anderes Bild von Deutschland als Kanzler Scholz. Noch nie habe eine Regierung so klar gegen die Interessen der eigenen Bevölkerung regiert. Als Beispiel nennt Merz das neue Staatsbürgerschaftsrecht, auch wenn er sich kurz mit dem Datum des Inkrafttretens vertut.
Statt Stabilitätsanker in Europa zu sein, gehe von keinem Land so viel Unklarheit und Unsicherheit aus wie von Deutschland. Die Regierungskoalition habe eine Klatsche bei der Europawahl kassiert und werde nur noch von der Not zusammengehalten, kritisiert Merz. Sie habe keinen Plan und kein Konzept – „nur noch der reine Machterhalt“.
Schönredner trifft auf Schwarzmaler
Ein Land, zwei Welten. Ein Schönredner und ein Schwarzmaler?
Die Herausforderungen, vor denen Deutschland steht, sind jedenfalls immens. Seit mehr als 800 Tagen tobt der russische Krieg in der Ukraine, und die Zweifel, ob sich die Angreifer bezwingen lassen, wachsen.
Die AfD beschimpft Scholz als „Kriegstreiber“, auch wenn sich der Zwischenrufer dafür einen Ordnungsruf der Bundestagspräsidentin einfängt. Und Parteichef Tino Chrupalla stellt die Militärhilfe für die Ukraine offen infrage: „Deutsche Waffen dienen der Selbstverteidigung, nicht der Unterstützung fremder Kriege“, ruft er.
Russland, Iran, Nordkorea und China formten eine „Achse der Autokratien“ mit dem Ziel, den Gestaltungsspielraum der Demokratien einzuengen, wie CDU-Chef Merz formuliert. Und es sei zweifelhaft, ob die europäische Wertegemeinschaft überhaupt noch die Kraft und den politischen Willen zu gemeinsamer Verteidigung aufbringe. Und im November stehen die Präsidentschaftswahlen in den USA an, die erneut den Populisten Donald Trump ins Weiße Haus führen könnten.
Um all diese Themen wird es gehen beim Treffen der europäischen Staats- und Regierungschefs an diesem Donnerstag und Freitag und im Juli beim Nato-Gipfel in Washington. Sowohl personell als auch inhaltlich werden die Weichen gestellt für die kommenden Jahre.
Für den Kanzler ist klar, dass sich auf europäischer Ebene etwas ändern muss, um den Herausforderungen begegnen zu können. Das neue Deutschlandtempo, das Scholz für sich in Anspruch nimmt, will er auch auf europäischer Ebene. Weniger Bürokratie, mehr Mehrheitsentscheidungen, weniger Fragmentierung im Kapitalmarkt.
Der Kanzler teilt gegen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen aus, obwohl er die zweite Amtszeit der CDU-Politikerin unterstützt: Deutschland habe die Kompetenz für die Handelspolitik nicht an die EU abgegeben, damit weniger Freihandelsabkommen zustande kommen, schimpft er. Und: „Wir brauchen einen funktionsfähigen Kapitalismus in Europa.“
Schwachstelle in Berlin, nicht in Brüssel
In der Kritik an Brüssel steht die Ampel sogar ausnahmsweise mal zusammen: FDP-Fraktionschef Christian Dürr nennt die erste Amtszeit von der Leyens „fünf mehr oder weniger verlorene Jahre voller Planwirtschaft und Bürokratie“.
Merz sieht die Schwachstelle dagegen weniger in Brüssel als vielmehr bei der Regierungskoalition in Berlin. Die Politik der Ampel trage die Schuld am Erstarken der Populisten von rechts und links. Und zum Glück werde das Schicksal Europas künftig maßgeblich von den konservativen EVP-Regierungschefs bestimmt, deren Parteien bei der Europawahl gestärkt worden seien.
Einig sind sich der Kanzler und der Oppositionsführer vor allem in zwei Punkten. Dass der Niederländer Mark Rutte, der am Mittwoch offiziell nominiert wurde, ein ganz hervorragender neuer Nato-Generalsekretär werden wird. Und dass die Ukraine weiter jede Unterstützung verdient und dass die AfD und das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) mit ihrer Politik nur dem Autokraten Wladimir Putin in die Hände spielen.
Wer glaube, dass die Ukraine Putins vermeintliches Verhandlungsangebot als eigenständiger Staat überlebe und dauerhafter Friede einkehre, „der muss schon sehr viel Russia Today schauen“, sagt der Kanzler. Und Merz kritisiert, dass das BSW und weite Teile der AfD jüngst der Rede des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski im Bundestag ferngeblieben seien: „Man muss sich schämen.“
Immerhin im Fremdschämen sind sich der Kanzler und sein wahrscheinlicher Herausforderer an diesem Mittwoch im Bundestag einig.